Camino del Norte – Unterwegs am Nordweg
Jakobsweg Tag 26: Von Ribadeo nach Villanova de Lourenzá, ca. 28 km und ca. 600 Höhenmeter
Nebel am Jakobsweg 26 RIBADEO nach VILLANOVA DE LOURENZÁ (Camino de la Costa)
Noch vor Sonnenaufgang geht es heute los. Allerdings hätten wir die Sonne auch nicht gesehen, falls sie aufgegangen wäre. Es regnet in Strömen. Die Lichter der Brücke tauchen die Landschaft, die nun völlig im Nebel und Regen liegt in ein gespenstisches orange-violettes Licht.
Ribadeo schläft noch. Und das Meer ist nicht mehr zu sehen. Es ist einfach weg. Ohne eine letzte Verabschiedung verhüllt es sich in dichten Schwaden. Ab heute wird es bis nach Santiago de Compostela bergauf gehen. Von Meereshöhe auf 260 Meter über dem Meeresspiegel. Die Berge, die wir dabei durchqueren werden sind aber höher. Viel höher. Wir werden die nächsten Tage ständig zwischen 550 Höhenmeter und knapp Null unterwegs sein.
Nach den letzten Ausläufern von Ribadeo verschwinden wir in nebligen Feldern und Wäldern. Das starke Gewitter, welches gerade tobt, jagt mir Angst ein. Zwischen Blitz und Donner liegt oft keine Sekunde. Will heißen: 300 Meter links und rechts von uns schlägt es ein. Sehr ungut. Nach acht Kilometern, mitten im Wald, will sich Jean-Louis unter seinem Poncho eine andere Hose anziehen. Natürlich verliert er bei diesem recht unbeholfenen Akt sein Gleichgewicht. Es war auch vorhersehbar, bei den Verrenkungen, die er gerade machte. Nass, alles nass.
Ein paar Pilger laufen an uns vorbei, lachen über Jean-Louis und verschwinden ebenso schnell wieder in der Regenwand. Sie hatten das Ziel, Unterschlupf in einer Bar in Vilela zu suchen.
Hätten wir gewusst, dass diese Bar nur noch 500 Meter entfernt lag, hätte sich Jean-Louis das Prozedere sparen können. Ab ins Trockene. In der Bar ist gerade Stromausfall. Es gibt aber noch lauwarmen Kaffee und ein paar frische Hörnchen dazu.
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Mariette und Corinna sind plötzlich auch hier. Ein Bild für Götter, eingewickelt in die durchsichtigen Plastikponchos. Innen genauso nass wie außen. Nach einer Stunde des Wartens, beginnen Jean-Louis und ich zu frieren, weil wir durchnässt sind. Ich packe meine Sandalen aus. Zeitgleich meint Jean-Louis „vamos!“ Mittlerweile haben sich in der Bar auch mehrere Fahrradpilger eingefunden. Jean-Louis und ich bezahlen, und sprinten mit einem kindischen „Juhuuuuu“ in das Regenspektakel.
Die anderen haben uns für verrückt erklärt. Aber so verrückt war das nicht. Es wird uns schnell wieder warm und wir haben riesigen Spaß. Wie oft im Leben hat man schon die Möglichkeit, Blödsinn zu machen? Mit Sandalen kann ich einfach in jede Pfütze reintreten. Und Jean-Louis macht es mir heute gleich.
Das fördert die Stimmung. Mitten im Regen laufen wir jetzt neben einer spanischen Schulklasse her. Der Lehrer hat sie für den Jakobsweg begeistert, der heute für sie in Ribadeo begann. Für Neustarter ein Horrorszenario!
Während die jungen Leute schon am Start des Weges am Ende ihrer mentalen Kräfte sind, haben Jean-Louis und ich allerbeste Laune. Die einen rauchen, die anderen haben tropfnasse Kopfhörer mit Musik im Ohr. Die ersten humpeln bereits. Die Rucksäcke der Jugendlichen sind durchwegs alle viel zu schwer. Und die Schuhe drücken sie schon auf den ersten Kilometern. Und alle laufen sie viel zu hastig.
Pilger im Regen 26 RIBADEO nach VILLANOVA DE LOURENZÁ (Camino de la Costa)
Jakobsweg: Dieses Tempo werden sie nie durchhalten können!
Der Lehrer, ein ziemlich cooler Typ weiß das natürlich auch und lächelt, als wir an ihm vorbeiziehen. Er ermahnt seine Kiddies, sich mit uns kein Rennen zu liefern. Doch genau das taten sie. Herrlich!
Bestimmt hat uns jeder der pubertierenden Fasterwachsenen mindestens schon einmal überholt. Oft sogar zwei, drei, vier Mal. Aber alle paar Meter blieben sie dann wegen irgendetwas stehen. Dann rannten sie wieder los. Klar, sie haben noch gar keinen eigenen Rhythmus gefunden.
Und nun kommen die ersten richtigen Höhenmeter. Ein gefundenes Fressen für uns. Ein Heimspiel! Jean-Louis und ich sind gerade wieder mitten im Getümmel der lautstarken Jugendlichen. Vor uns, hinter uns. Überall lärmt und meutert es. Selbst aus dem Nebel ist Grölen und Spaß zu hören. Ja, so waren wir auch einmal. Fast schade, dass die Zeit so schnell vergeht. Jetzt stehen wir eindeutig auf der Seite der alten Deppen. Allerdings werden wir ja ständig von den Halbstarken herausgefordert. Auf Spanisch zwar, aber wir verstehen das Geläster sehr wohl. Und das weckt bei uns diese uralten kindlichen Urinstinkte. Zeig’s ihnen halt. Lets go!
In mein Tagebuch habe ich später dieses Kochrezept für ein Pubertätsduell notiert, welches für uns natürlich der wahre Jungbrunnen war:
Die zwölf Gebote zum Duell: So geht’s:
- Ziehe dich schon aus, noch bevor die anderen es tun. Du sparst damit Energie und läufst gekühlt davon, wenn die anderen überhitzt Halt machen müssen.
- Ziehe dich im Regen sofort wieder an, bevor die anderen es tun. Die anderen kühlen erst noch aus und vergeuden ihre Energie.
- Am Berg: Werde sofort langsamer, bevor die anderen langsamer werden. Lass sie sich mit dem falschen Rhythmus verausgaben.
- Wenn du Stöcke hast, dann schlage damit doppelt so oft auf den Boden, als du Schritte machst. Damit machst du die Vordermänner irre und du kannst sie jagen.
- Wenn sie humpeln, spreche sie darauf an. Dann denken sie nur noch an ihre Schmerzen.
- Wenn sie erschöpft sind, biete ihnen an, ihren Rucksack zu tragen. Das zermürbt ihre Psyche. und provoziert sie erneut. Natürlich lassen sie sich von Erwachsenen niemals helfen!
- Bergab: Werde sofort sehr sehr schnell. Das schont die Knie, laufe, ja renne los! Und mache ein paar versteckte Abkürzer!
- Mache Pause, bevor die anderen es tun! Ohne Pause übersäuern ihre Muskeln und sie bekommen fiese Schmerzen.
- Höre auf zu reden, wenn es anstrengend wird. Aber: Singe und pfeife laut, wenn du sie überholst. Das raubt ihnen die Moral.
- Frage niemanden nach dem Weg. Die Antworten sind immer falsch. (Ja, ich war auch einmal jung… und gemein!)
- Laufe denen, die gerade nach dem Weg gefragt haben, nicht hinterher. Sie laufen jetzt falsch! Benutze Hirn, Kompass (Jean-Louis) und Karte!
- Mache am Nachmittag Ruhepausen…
… und freue dich, wenn die anderen erschöpft am Wegesrand sitzen.
Gewitter am Jakobsweg 26 RIBADEO nach VILLANOVA DE LOURENZÁ (Camino de la Costa)
Gewitter am Jakobsweg
Jakobsweg: Jetzt kannst du pfeifen, singen und einen Gang hochschalten.
Und jetzt wieder zurück zur Raison. Warum darf ein erwachsener Mensch nicht auch einmal richtig kindisch sein? Sich selbst so fühlen, wie damals in der Pubertät. Blödsinn (mit)machen, ohne gleich wieder von der Vernunft eingeholt zu werden? Es waren ja die Pubertierenden, die den Wettkampf gesucht haben. Die ihn geradezu heraufbeschworen haben. Die ihre eigenen Grenzen austesten wollten. Koste es, was es wolle. Und sie wollten eigene Erfahrungen sammeln. Selbst und auf die Art, wie sie es uns vorgaben. Lernen bedeutet Schmerz. Auch als Erwachsener. Und mal ehrlich: Hin und wieder auch einmal als Gewinner heraus zu gehen, ist doch auch ein tolles Gefühl. Denn besser waren die Jungen allemal. Nur kannten sie noch nicht unsere Tricks. (Doch die haben sie natürlich schnell gelernt).
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Der Lehrer grinste uns an. Er kannte seine Pappenheimer. So einen Lehrer hätte ich mir früher gewünscht. Es war die richtige Mischung aus ernsthafter Disziplin und Souveränität. Aber auch Lockerheit und Natürlichkeit. Er hatte den längeren Atem und das wusste er auch. Seine Schüler ließ er austoben.
Langsam wird der Regen leichter, der Nebel lichtet sich mit jedem Höhenmeter. Es geht vorbei an romantischen Gehöften und verschlafenen Dörfchen. Hier haben wie immer die Haushunde das Sagen. Ein Problem waren sie aber nie wirklich. Einige Pilger haben Angst. Denn auf jedem Hof gibt es Hunde, die ihr Revier bellend markieren. Doch jeder Hund weiß auch, dass wir nur vorüberziehen.
Am Nachmittag wird es jetzt noch sonnig und traumhaft schön. Auch wenn hier wieder einige Strecken des Jakobsweges wegen Überflutung gesperrt sind. Verkehr gibt es kaum. Bis auf zwei Jungspunde, die uns heute einen Schreck einjagen wollten. Mit ihrem alten, aufgemotzten Schirokko verjagen sie uns im Karacho vom Feldweg. Jean-Louis schreit ihnen nach und erhebt seinen Pilgerstab. Das hat sie wohl provoziert. Sie machen eine staubige Vollbremsung, legen den Rückwärtsgang ein und stampfen wie der Stier in der Arena mit dem Fuß. Nur eben nicht auf den Boden, sondern auf das Gaspedal der alten und proletenhaft getunten Schrottkarre.
Der Jakobsweg hat mich zwar ein wenig dünner gemacht. Aber dafür sieht man nun an jedem Körperteil die Muskeln und die Adern. Und:
Der Jakobsweg hat mir ein unerschütterliches Selbstbewusstsein gegeben.
Diese Ausstrahlung ist nun wie ein Panzer um mich herum. Beide nehmen wir die Rucksäcke ab und lächeln dem entgegen, was nun zu kommen scheint. Unsere erste handfeste Auseinandersetzung. Doch unsere Aura scheint irgendwie stärker zu sein und auch die Gehirne der beiden Proleten zu durchdringen. Sie trauen sich dann doch nicht und brausen in einer weiteren Staubwolke davon. Schade eigentlich. Aber auch gut so!
Nachdem ich in einem kleinen Laden die falsche Dose erwischt habe, gab es heute Thunfisch mit Mais, Bohnen und scharfer Soße. Auch nicht schlecht. Wir machen Rast im Grünen und reden über das Meer, das uns heute fehlt. Allerdings ist die gebirgige Landschaft hier so schön und abwechslungsreich, das wir uns wahrhaft nicht beschweren können.
Die Herberge in Villanova erreichen wir ohne weitere Zwischenfälle. Sie liegt etwas abgelegen vom Stadtplatz und mitten im Grünen. Mit Kochgelegenheit. Herrlich.
Brotzeit am Jakobsweg 26 RIBADEO nach VILLANOVA DE LOURENZÁ (Camino de la Costa)
Nach der Kirche: Thunfisch
Nach einem Kirchenbesuch, möchte ich noch Nudeln und Thunfisch kaufen. Das Kochen für die Gruppe ist irgendwie zu meinem Hobby geworden und ich tue das keineswegs aus irgendwelchen Verpflichtungen heraus. In einer Herberge ist der Herd einfach der schönste Platz und alles Leben spielt sich drumherum ab. Dafür habe ich nie etwas mit dem Abspülen zu tun. Das machen die anderen. Der Koch ist eben der Chef!
Also einkaufen. Als die junge Verkäuferin an der Fischtheke den Dosenfisch sieht, den ich in meinem Korb habe, überfällt sie mich mit einem spanischen Wortschwall. Ich verstehe nur so viel, „dass ich bescheuert bin“. Frisch gefangene Sardinen seinen tausendmal billiger als eine Thunfischdose. Und natürlich viel besser. Für gerade einmal vier Euro bekomme ich eineinhalb Kilo frischen Fisch. Sensationell. Dazu sechs Packungen Spaghetti, Knoblauch, Tomatensoße, frischen Koriander und Ingwer. Und fünf Liter Rotwein. Denn heute am Nordweg sollen alle satt werden. Pro Person kommt das Essen und Trinken dann auf nicht einmal zwei Euro.
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Jean-Louis meint zwar, ich könne in der Herberge wegen dem Geruch unmöglich Sardinen zubereiten. Doch nachdem jeder mitessen wollte, war es natürlich auch jedem egal. Wir sind heute 22 Pilger. Andere Pilger haben dann noch Joghurt als Nachtisch und weitere Sachen besorgt.
Jean-Louis hat heute endlich einmal einen französischen Gesprächspartner. Jean-Marie ist sage und schreibe 71 Jahre alt, macht den Jakobsweg rückwärts, ebenfalls mit einer selbstgebauten Zugkarre. Jeden Tag mindestens 40 Kilometer, das war seine Prämisse. Hier lerne ich auch Roberto, einen jungen Mexikaner kennen, der mich später dann in Deutschland besucht. Auch Mariette und Corinna sind wieder hier. Die Herberge ist wie fast überall super gepflegt, sauber und geräumig. Die Betten haben ausreichend Abstand voneinander und sind auf mehrere offene Räume verteilt. Luftig und entspannend. Natürlich auch kein Schimmel! Als Donativo – einer Spende – werden fünf Euro vorgeschlagen. Übernachtung mit reichhaltigem Abendmenü inklusive Rotwein also knapp sieben Euro.
Die Schulklasse ist heute nicht hier angekommen.
Freiheit: Jakobsweg-Emblem Camino de la Costa – Küstenweg mir einem Vogel in der Luft, hoch über der Atlantikküste
Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste Camino del Norte – Unterwegs am Nordweg
Camino del Norte – Unterwegs am Nordweg
Jakobsweg Tag 26: Von Ribadeo nach Villanova de Lourenzá, ca. 28 km und ca. 600 Höhenmeter
Noch vor Sonnenaufgang geht es heute los. Allerdings hätten wir die Sonne auch nicht gesehen, falls sie aufgegangen wäre. Es regnet in Strömen. Die Lichter der Brücke tauchen die Landschaft, die nun völlig im Nebel und Regen liegt in ein gespenstisches orange-violettes Licht.
Ribadeo schläft noch. Und das Meer ist nicht mehr zu sehen. Es ist einfach weg. Ohne eine letzte Verabschiedung verhüllt es sich in dichten Schwaden. Ab heute wird es bis nach Santiago de Compostela bergauf gehen. Von Meereshöhe auf 260 Meter über dem Meeresspiegel. Die Berge, die wir dabei durchqueren werden sind aber höher. Viel höher. Wir werden die nächsten Tage ständig zwischen 550 Höhenmeter und knapp Null unterwegs sein.
Nach den letzten Ausläufern von Ribadeo verschwinden wir in nebligen Feldern und Wäldern. Das starke Gewitter, welches gerade tobt, jagt mir Angst ein. Zwischen Blitz und Donner liegt oft keine Sekunde. Will heißen: 300 Meter links und rechts von uns schlägt es ein. Sehr ungut. Nach acht Kilometern, mitten im Wald, will sich Jean-Louis unter seinem Poncho eine andere Hose anziehen. Natürlich verliert er bei diesem recht unbeholfenen Akt sein Gleichgewicht. Es war auch vorhersehbar, bei den Verrenkungen, die er gerade machte. Nass, alles nass.
Ein paar Pilger laufen an uns vorbei, lachen über Jean-Louis und verschwinden ebenso schnell wieder in der Regenwand. Sie hatten das Ziel, Unterschlupf in einer Bar in Vilela zu suchen.
Hätten wir gewusst, dass diese Bar nur noch 500 Meter entfernt lag, hätte sich Jean-Louis das Prozedere sparen können. Ab ins Trockene. In der Bar ist gerade Stromausfall. Es gibt aber noch lauwarmen Kaffee und ein paar frische Hörnchen dazu.
Mariette und Corinna sind plötzlich auch hier. Ein Bild für Götter, eingewickelt in die durchsichtigen Plastikponchos. Innen genauso nass wie außen. Nach einer Stunde des Wartens, beginnen Jean-Louis und ich zu frieren, weil wir durchnässt sind. Ich packe meine Sandalen aus. Zeitgleich meint Jean-Louis „vamos!“ Mittlerweile haben sich in der Bar auch mehrere Fahrradpilger eingefunden. Jean-Louis und ich bezahlen, und sprinten mit einem kindischen „Juhuuuuu“ in das Regenspektakel.
Die anderen haben uns für verrückt erklärt. Aber so verrückt war das nicht. Es wird uns schnell wieder warm und wir haben riesigen Spaß. Wie oft im Leben hat man schon die Möglichkeit, Blödsinn zu machen? Mit Sandalen kann ich einfach in jede Pfütze reintreten. Und Jean-Louis macht es mir heute gleich.
Das fördert die Stimmung. Mitten im Regen laufen wir jetzt neben einer spanischen Schulklasse her. Der Lehrer hat sie für den Jakobsweg begeistert, der heute für sie in Ribadeo begann. Für Neustarter ein Horrorszenario!
Während die jungen Leute schon am Start des Weges am Ende ihrer mentalen Kräfte sind, haben Jean-Louis und ich allerbeste Laune. Die einen rauchen, die anderen haben tropfnasse Kopfhörer mit Musik im Ohr. Die ersten humpeln bereits. Die Rucksäcke der Jugendlichen sind durchwegs alle viel zu schwer. Und die Schuhe drücken sie schon auf den ersten Kilometern. Und alle laufen sie viel zu hastig.
Jakobsweg: Dieses Tempo werden sie nie durchhalten können!
Der Lehrer, ein ziemlich cooler Typ weiß das natürlich auch und lächelt, als wir an ihm vorbeiziehen. Er ermahnt seine Kiddies, sich mit uns kein Rennen zu liefern. Doch genau das taten sie. Herrlich!
Bestimmt hat uns jeder der pubertierenden Fasterwachsenen mindestens schon einmal überholt. Oft sogar zwei, drei, vier Mal. Aber alle paar Meter blieben sie dann wegen irgendetwas stehen. Dann rannten sie wieder los. Klar, sie haben noch gar keinen eigenen Rhythmus gefunden.
Und nun kommen die ersten richtigen Höhenmeter. Ein gefundenes Fressen für uns. Ein Heimspiel! Jean-Louis und ich sind gerade wieder mitten im Getümmel der lautstarken Jugendlichen. Vor uns, hinter uns. Überall lärmt und meutert es. Selbst aus dem Nebel ist Grölen und Spaß zu hören. Ja, so waren wir auch einmal. Fast schade, dass die Zeit so schnell vergeht. Jetzt stehen wir eindeutig auf der Seite der alten Deppen. Allerdings werden wir ja ständig von den Halbstarken herausgefordert. Auf Spanisch zwar, aber wir verstehen das Geläster sehr wohl. Und das weckt bei uns diese uralten kindlichen Urinstinkte. Zeig’s ihnen halt. Lets go!
In mein Tagebuch habe ich später dieses Kochrezept für ein Pubertätsduell notiert, welches für uns natürlich der wahre Jungbrunnen war:
Die zwölf Gebote zum Duell: So geht’s:
Ziehe dich schon aus, noch bevor die anderen es tun. Du sparst damit Energie und läufst gekühlt davon, wenn die anderen überhitzt Halt machen müssen.
Ziehe dich im Regen sofort wieder an, bevor die anderen es tun. Die anderen kühlen erst noch aus und vergeuden ihre Energie.
Am Berg: Werde sofort langsamer, bevor die anderen langsamer werden. Lass sie sich mit dem falschen Rhythmus verausgaben.
Wenn du Stöcke hast, dann schlage damit doppelt so oft auf den Boden, als du Schritte machst. Damit machst du die Vordermänner irre und du kannst sie jagen.
Wenn sie humpeln, spreche sie darauf an. Dann denken sie nur noch an ihre Schmerzen.
Wenn sie erschöpft sind, biete ihnen an, ihren Rucksack zu tragen. Das zermürbt ihre Psyche. und provoziert sie erneut. Natürlich lassen sie sich von Erwachsenen niemals helfen!
Bergab: Werde sofort sehr sehr schnell. Das schont die Knie, laufe, ja renne los! Und mache ein paar versteckte Abkürzer!
Mache Pause, bevor die anderen es tun! Ohne Pause übersäuern ihre Muskeln und sie bekommen fiese Schmerzen.
Höre auf zu reden, wenn es anstrengend wird. Aber: Singe und pfeife laut, wenn du sie überholst. Das raubt ihnen die Moral.
Frage niemanden nach dem Weg. Die Antworten sind immer falsch. (Ja, ich war auch einmal jung... und gemein!)
Laufe denen, die gerade nach dem Weg gefragt haben, nicht hinterher. Sie laufen jetzt falsch! Benutze Hirn, Kompass (Jean-Louis) und Karte!
Mache am Nachmittag Ruhepausen...
... und freue dich, wenn die anderen erschöpft am Wegesrand sitzen.
Jakobsweg: Jetzt kannst du pfeifen, singen und einen Gang hochschalten.
Und jetzt wieder zurück zur Raison. Warum darf ein erwachsener Mensch nicht auch einmal richtig kindisch sein? Sich selbst so fühlen, wie damals in der Pubertät. Blödsinn (mit)machen, ohne gleich wieder von der Vernunft eingeholt zu werden? Es waren ja die Pubertierenden, die den Wettkampf gesucht haben. Die ihn geradezu heraufbeschworen haben. Die ihre eigenen Grenzen austesten wollten. Koste es, was es wolle. Und sie wollten eigene Erfahrungen sammeln. Selbst und auf die Art, wie sie es uns vorgaben. Lernen bedeutet Schmerz. Auch als Erwachsener. Und mal ehrlich: Hin und wieder auch einmal als Gewinner heraus zu gehen, ist doch auch ein tolles Gefühl. Denn besser waren die Jungen allemal. Nur kannten sie noch nicht unsere Tricks. (Doch die haben sie natürlich schnell gelernt).
Der Lehrer grinste uns an. Er kannte seine Pappenheimer. So einen Lehrer hätte ich mir früher gewünscht. Es war die richtige Mischung aus ernsthafter Disziplin und Souveränität. Aber auch Lockerheit und Natürlichkeit. Er hatte den längeren Atem und das wusste er auch. Seine Schüler ließ er austoben.
Langsam wird der Regen leichter, der Nebel lichtet sich mit jedem Höhenmeter. Es geht vorbei an romantischen Gehöften und verschlafenen Dörfchen. Hier haben wie immer die Haushunde das Sagen. Ein Problem waren sie aber nie wirklich. Einige Pilger haben Angst. Denn auf jedem Hof gibt es Hunde, die ihr Revier bellend markieren. Doch jeder Hund weiß auch, dass wir nur vorüberziehen.
Am Nachmittag wird es jetzt noch sonnig und traumhaft schön. Auch wenn hier wieder einige Strecken des Jakobsweges wegen Überflutung gesperrt sind. Verkehr gibt es kaum. Bis auf zwei Jungspunde, die uns heute einen Schreck einjagen wollten. Mit ihrem alten, aufgemotzten Schirokko verjagen sie uns im Karacho vom Feldweg. Jean-Louis schreit ihnen nach und erhebt seinen Pilgerstab. Das hat sie wohl provoziert. Sie machen eine staubige Vollbremsung, legen den Rückwärtsgang ein und stampfen wie der Stier in der Arena mit dem Fuß. Nur eben nicht auf den Boden, sondern auf das Gaspedal der alten und proletenhaft getunten Schrottkarre.
Der Jakobsweg hat mich zwar ein wenig dünner gemacht. Aber dafür sieht man nun an jedem Körperteil die Muskeln und die Adern. Und:
Der Jakobsweg hat mir ein unerschütterliches Selbstbewusstsein gegeben.
Diese Ausstrahlung ist nun wie ein Panzer um mich herum. Beide nehmen wir die Rucksäcke ab und lächeln dem entgegen, was nun zu kommen scheint. Unsere erste handfeste Auseinandersetzung. Doch unsere Aura scheint irgendwie stärker zu sein und auch die Gehirne der beiden Proleten zu durchdringen. Sie trauen sich dann doch nicht und brausen in einer weiteren Staubwolke davon. Schade eigentlich. Aber auch gut so!
Nachdem ich in einem kleinen Laden die falsche Dose erwischt habe, gab es heute Thunfisch mit Mais, Bohnen und scharfer Soße. Auch nicht schlecht. Wir machen Rast im Grünen und reden über das Meer, das uns heute fehlt. Allerdings ist die gebirgige Landschaft hier so schön und abwechslungsreich, das wir uns wahrhaft nicht beschweren können.
Die Herberge in Villanova erreichen wir ohne weitere Zwischenfälle. Sie liegt etwas abgelegen vom Stadtplatz und mitten im Grünen. Mit Kochgelegenheit. Herrlich.
Nach der Kirche: Thunfisch
Nach einem Kirchenbesuch, möchte ich noch Nudeln und Thunfisch kaufen. Das Kochen für die Gruppe ist irgendwie zu meinem Hobby geworden und ich tue das keineswegs aus irgendwelchen Verpflichtungen heraus. In einer Herberge ist der Herd einfach der schönste Platz und alles Leben spielt sich drumherum ab. Dafür habe ich nie etwas mit dem Abspülen zu tun. Das machen die anderen. Der Koch ist eben der Chef!
Also einkaufen. Als die junge Verkäuferin an der Fischtheke den Dosenfisch sieht, den ich in meinem Korb habe, überfällt sie mich mit einem spanischen Wortschwall. Ich verstehe nur so viel, „dass ich bescheuert bin“. Frisch gefangene Sardinen seinen tausendmal billiger als eine Thunfischdose. Und natürlich viel besser. Für gerade einmal vier Euro bekomme ich eineinhalb Kilo frischen Fisch. Sensationell. Dazu sechs Packungen Spaghetti, Knoblauch, Tomatensoße, frischen Koriander und Ingwer. Und fünf Liter Rotwein. Denn heute am Nordweg sollen alle satt werden. Pro Person kommt das Essen und Trinken dann auf nicht einmal zwei Euro.
Jean-Louis meint zwar, ich könne in der Herberge wegen dem Geruch unmöglich Sardinen zubereiten. Doch nachdem jeder mitessen wollte, war es natürlich auch jedem egal. Wir sind heute 22 Pilger. Andere Pilger haben dann noch Joghurt als Nachtisch und weitere Sachen besorgt.
Jean-Louis hat heute endlich einmal einen französischen Gesprächspartner. Jean-Marie ist sage und schreibe 71 Jahre alt, macht den Jakobsweg rückwärts, ebenfalls mit einer selbstgebauten Zugkarre. Jeden Tag mindestens 40 Kilometer, das war seine Prämisse. Hier lerne ich auch Roberto, einen jungen Mexikaner kennen, der mich später dann in Deutschland besucht. Auch Mariette und Corinna sind wieder hier. Die Herberge ist wie fast überall super gepflegt, sauber und geräumig. Die Betten haben ausreichend Abstand voneinander und sind auf mehrere offene Räume verteilt. Luftig und entspannend. Natürlich auch kein Schimmel! Als Donativo – einer Spende – werden fünf Euro vorgeschlagen. Übernachtung mit reichhaltigem Abendmenü inklusive Rotwein also knapp sieben Euro.
Die Schulklasse ist heute nicht hier angekommen.
Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis
Camino del Norte – Unterwegs am Nordweg
Array
(
)
Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg
Array
(
)
Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3
Array
(
)
1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
1414
Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag
Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:
Camino de la Costa, Camino del Norte