GERNIKA – BILBAO
Gernika – Bilbao
Tag 6: 40 km, ca. 1.000 Höhenmeter, über die Anhöhe von Morga, Lezama, Zamudio.
Ein harter und betrüblicher Tag bricht an. Mit Ingrid geht es gemeinsam auf dem nassen Boden weiter in Richtung Lezama.
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Und ich weiß: Mit jedem Schritt, den ich ihr nachgegangen bin, ist eine tiefe Freundschaft entstanden. Seit Tagen folge ich ihren Spuren. Ich höre ihr zu und lache viel. Ganz nebenbei habe ich von ihr alles gelernt, was man über den Jakobsweg als Pilger wissen muss. All die Tage habe ich versucht, an ihr dran zu bleiben. Heute sind die Schritte von Ingrid höllisch.
Besonders die letzten Kilometer bergab auf der trostlosen nassen Teerstraße. Ingrid meint: Sechs bis sieben Kilometer in der Stunde werden’s schon sein und legt noch einmal zu. Doch irgendwie ist sie heute total zugeknöpft.
Sie ist schweigsam und in sich versunken. Obwohl sie immer schneller und schneller geht, meint sie wortkarg: „Ich werde die nächsten Tage langsamer machen“. Die Betonung des kurzen Satzes liegt auf „ich“. Dann schweigt sie.
In Lezama kommen wir schon um 14 Uhr an. Wir stehen vor den verschlossenen Türen der Herberge. Betretenes warten. Ingrid redet davon, dass sie um viele Tage zu früh ankommen würde in Santiago. Sie hat einen festen Plan. Ihren eigenen. Sie spricht vom Guggenheim-Museum, welches sie sich dieses Mal unbedingt ansehen will. Und sie spricht von ein paar ruhigen Tagen, allein.
Ich laufe hinein in das Städtchen und besorge uns ein wenig Brotzeit, sowie zwei Dosenbier. Ja, Ingrid hat mich gebeten, ihr ein Dosenbier mitzunehmen! Aber auch das ändert nichts an der betretenen Stimmung.
Abschied nehmen
Ich bringe keinen Bissen herunter, und ich spüre, dass die Zeit gekommen ist, wo wir wieder getrennte Wege gehen müssen. Warum nur?
Ich will Ingrid weder zur Last fallen, noch möchte ich sie anstacheln. Also lasse ich sie vor sich hin sinnieren. Immer wieder muss ich wegsehen, wenn ich zu ihr hinschauen will. Ich starre in den Boden.
Ingrid will dann telefonieren. Aber mein Handy lehnt sie ab. Ganz langsam, mit gesenktem Kopf geht sie los, um eine Telefonzelle zu suchen.
Während ich vor mich hingrübele, kommen drei Spanier im mittleren Alter, zwei Männer und eine Frau. Zwei von Ihnen habe ich schon einmal im alten Schulgebäude in Deba gesehen. Sie setzen sich zu mir, sind laut und übertrieben lustig. Das mag ich gerade überhaupt nicht.
Ich packe meinen feuchten Plastikstuhl und setze mich wortlos an das andere Eck des Vorgartens. Ingrid kommt zurück und es verschnürt mir die Kehle. Ich oder sie? Schon auf die Ferne scheinen wir beide das Gleiche zu empfinden. Wir wollten zusammen bleiben und doch ziehen. Allein.
Als Sie vor mir steht, habe ich sie einfach nur umarmt.
Ganz fest und innig. Keiner von uns bringt ein Wort heraus. Beide kämpfen wir gegen die Tränen an.
Liebevoll streicht Ingrid mir durch die Haare und flüstert mir ganz leise in mein Ohr:
Bon Camino, bon Camino, bon Camino!
Ich greife zu meinem Rucksack, alles andere lasse ich am Tisch stehen. Alles zieht sich in mir zusammen. Wortlos gehe ich. Ich werde noch eine weitere Etappe nach Bilbao machen. Weg von hier! Weg, bevor sie meine Tränen sieht und weg, bevor ich ihre sehe.
Eine kleine aber brachiale Bergtour liegt zwischen hier und Bilbao. Ich vermisse sie. Ich vermisse sie furchtbar. Öde Schritte nach oben. Heute begreife ich, was der Jakobsweg wirklich ist:
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Der Weg ist ein Loslassen.
Loslassen ist die härteste Lektion, die mir Ingrid nun noch beigebracht hat. Vielleicht auch eine der härtesten Lektionen in meinem ganzen Leben. Dafür danke ich ihr ewig. Mein eigener Weg kommt mir plötzlich sehr unbarmherzig vor. Und doch fühle ich ganz tief in meinem Inneren, das Ingrid ein Engel gewesen ist, der mich den wichtigsten Teil meines Weges begleitet hat. Und das wird uns fortan für immer verbinden. Doch jetzt kämpfe ich mit meinen Gefühlen. Bergauf mischt sich Wut in meine Tränen.
Doch ich lasse sie an mir hinunter laufen. Nichts muss ich hier noch verstecken. Es gibt nichts, weswegen ich mich schämen müsste, nur weil ich gerade mich selbst spüre.
Was ist das, was gerade mit mir passiert?
Ist es ein Anfall von Depression? Oder ist es Selbstmitleid? Oder ist es ganz einfach tiefer Schmerz gepaart mit einem aufkommenden Gefühl der Erleichterung?
Ich weiß es nicht. Alles prasselt jetzt von mir herab.
Aber irgendwie ist es, als hätte ich all die letzten Jahre auf diesen Moment gewartet.
Ich habe mein Leben heute selbst in die Hand genommen. Ich habe losgelassen. Und ab hier gehe ich meinen eigenen Weg.
Loslassen ist ein neuer Anfang.
Jetzt bin ich allein. Allein mit mir.
Immer wieder kommen Tränen hoch. Immer wieder spüre ich aber auch so etwas wie Befreiung. So als wenn eine große Last von mir abfällt. Damit meine ich nicht Ingrid, sondern mein Leben davor. Das Wechselbad der Gefühle vollzieht sich rasend schnell. Mit jedem neuen Schritt, den ich vor den anderen setze, betrete ich eine neue Welt hinein in mich selbst.
Ich habe endlich wieder das längst verloren gegangene Gefühl, dass ich in meiner eigenen Gegenwart angekommen bin. Auch wenn es schmerzlich ist.
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Burnout: Mein verlorenes Ich
Zu Hause ist es mir zuletzt sogar schwer gefallen, mich auf die spontanen und gefühlsechten Wahrnehmungen meiner Kinder einzulassen.
Oh Gott, wie viel „Unwichtiges“, aber Schönes habe ich in den letzten Jahren wohl versäumt?
Das schlimme am Zustand permanenter Überforderung ist wohl, das man ganz schleichend und unbemerkt den Bezug zu sich selbst verliert. So verkommt man zu einer erstarrten Hülle ohne die Gefühle, die ich jetzt gerade habe. Außer es ist schon soweit, dass man ab und zu seelisch zusammen bricht.
Jahrelang war früher in der Arbeit mein ständig wechselndes Passwort Freiheit-1 für den Januar, Freiheit-2 für den Februar usw.
Doch was helfen schon Passwörter, wenn man ohne die Freundschaft mit dem eigenen Ich nur noch gereizt und maschinell funktioniert. Ohne Leidenschaft. Ohne aufrichtige Pflege langjähriger Beziehungen zur Außenwelt. Der Zwang zum Grübeln hat langsam das Oberwasser bekommen. Irrationale Schuldgefühle und unerklärbare Niedergeschlagenheit haben sich die Klinke mit anderen, immer neueren affektiven Störungssymptomen in die Hand gegeben, die sich einfach so in das Leben eingeschlichen haben. Unbemerkt.
Man atmet, aber man ist nicht mehr „lebendig“. Man liebt sich nicht mehr. Natürlich hasst man sich auch nicht. Man ist sich einfach gleichgültig.
Wenn alles ungefragt dazwischen funkt
Alles hält auf und stört. Alles tritt einem unfair entgegen, beeinträchtigt, blockiert und legt lahm. Alles dringt ungefragt ein, trübt und führt weg von der Geistesgegenwart. Alles überflutet einen und man kann die einfachsten Entscheidungen nicht mehr treffen.
Man ist genervt von ständig neuen Ereignissen, die die Konzentration auf eine andere Aufgabe unmöglich machen. Getrieben von fortwährender Überlastung. Nur die gesteht man sich nicht zu, denn man begreift sich ja selbst am allerwenigsten, wenn man den Kontakt zu sich selbst verliert.
Es sind ja die anderen, die Umstände, die immer erbarmungsloser mit einem umgehen. Man jagt nur noch hinterher, hechelt von einem zum anderen Termin, um gleichzeitig
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den Geburtstag der eigenen Tochter zu vergessen!
Gut, dass ich eine liebenswerte Frau habe, die mich schon besser kennt, als ich mich selbst. Sie sorgt wirklich immer für alles vor, was ich selbst vergessen könnte. Doch obwohl sie mir gezeigt hat, welches Geschenk die Tochter von uns bekommt, weiß ich es im nächsten Augenblick schon nicht mehr. Denn in Gedanken bin ich bei einem Problem. Irgendeinem. Ich habe mich wieder einmal festgebissen und bin nicht mehr da.
Man grübelt über die Vergangenheit. Und man grübelt über die Zukunft. Buchstäblich jede noch so kleine Sache verselbständigt sich in nie endenden Denkspiralen.
Kein Einschlafen, ohne Grübeln. Kein Aufwachen, ohne schweißgebadet zu sein. Kein Bezug mehr zu dem, was sich buchstäblich da draußen vor mir abspielt.
Kein Interesse mehr und keine Zeit für mich und andere. Selbst für das, was gut tut, hat man keine „Zeit“ mehr. Lieber noch mal schnell zurück zum Computer.
Jedes Problem verselbständigt sich im Gehirn ohne jeden Buzzer.
Ungefähr so, wie die Brandung des Atlantiks haben sich meine Gedanken dann ständig den Weg in das Bewusstsein gemeißelt, sodass für den eigentlichen Moment – das Jetzt – kein Platz mehr ist. Längst haben sich handfeste Symptome manifestiert, die natürlich kein Schulmediziner der Welt deuten und heilen kann.
Dass da ein Zusammenhang bestand mit der eigenen Lebensart, habe ich nie begriffen. Herzrhythmusstörungen waren beim Einschlafen schon so normal, dass sie einfach dazu gehörten. Natürlich haben sie mir immer wieder aufs Neue Angst eingejagt und kalten Schweiß auf die Stirn getrieben.
Man beginnt irgendwann ganz automatisch damit, ständig in sich hinein zu horchen und zu fühlen, ob das Herz noch schlägt.
Ja, es schlägt.
Natürlich bin ich gesund. Kerngesund…
abgesehen von…
… ja, abgesehen von ein paar Dingen, die sich so ganz unbemerkt in mein Leben eingeschlichen haben. Und das war, hätte ich einmal darüber nachgedacht eine ganze Horrorliste!
Schon vor vielen Jahren ging es los, als ich noch für ein großes Deutsches Bankhaus arbeitete. Wo bin ich? Welcher Tag ist heute? In welchem Hotel übernachte ich heute Abend?
Gerade saß ich wieder im Flieger, Businesshemd, aber Holzklasse. Und während sich die anderen Passagiere entspannt zurück lehnten überfiel mich eine wahnsinnige Unruhe. Mein linker Arm schlief ein, um die Herzgegend krampfte sich alles zusammen, ich schnappte nach Luft, erhob mich und schrie nach der Flugbegleiterin, während ich gleichzeitig zurücksackte und Todesangst aufkam.
Ich fand mich dann ganz vorne vor dem Cockpit am Boden liegend wieder, zwei Flugbegleiterinnen waren um mich herum und ein Passagier, der Arzt war. Er hielt meine Hand. Die Tür zum Cockpit war geöffnet und auch der Pilot war plötzlich bei mir. Ich hörte von einer Notlandung und alles ging dann ganz schnell.
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Kein Arzt findet was
Im Krankenhaus fand man aber nichts, was auch nur im Entferntesten auf einen Herzinfarkt hindeuten würde. Und, obwohl mir noch kotzübel war, wurde ich ebenso schnell wieder entlassen.
Das war der Beginn von gut einem Dutzend weiteren Symptomen, die im Laufe der Zeit hinzu gekommen sind. Nach meinem gefühltem Herzinfarkt haben alle EKG‘s immer wieder attestiert, dass ich kerngesund bin. Trotzdem bekam ich von nun an öfter Panikattacken, wenn ich allein im Wald beim Pilze Suchen oder beim Mountainbiken war. Die Angst wurde schließlich so groß, dass ich mich zuletzt gar nicht mehr weit fort traute.
In der Arbeit funktionierte ich wie immer. Ganz im Gegenteil. Man klopfte mir wegen der Notlandung sogar respektvoll auf die Schulter: Kann ja mal vorkommen, so viel wie du unterwegs bist. Immer mehr Leistung musste ich bringen. Tun. Oder wie man im Vertrieb sagt: Tag und Nacht.
Auf jedem Seminar war ich der letzte, der mit den Mitarbeitern an der Hotelbar saß und unentwegt über das Geschäft sprach und natürlich war ich immer der erste, der am nächsten Morgen in bester Laune wieder da war. Jeden Tag aufs Neue. Schließlich dehnten sich Seminare immer mehr auf die Wochenenden aus. Und trotzdem stand ich am Montagmorgen pünktlich in der Arbeit. Selbst dann, wenn ich erst um Fünf in der Früh heimgekommen bin.
Auch meine Knie machten mir irgendwann große Probleme und Joggen ging nur noch auf eine kurze Distanz. Mein Körper wollte mir dadurch vielleicht zeigen: Es „geht“ nicht mehr!
Und dann waren da noch Stellen, die seit Ewigkeiten entzündet waren und einfach nicht mehr abheilen wollten. Der jahrelange schulmedizinische Arztmarathon brachte erwartungsgemäß kein Ergebnis. Und damals war ich erst 30 Jahre alt.
Tausend Symptome
Irgendwann fielen mir dann viele Schlieren „in meinen Augen“ auf, die von nun an immer da waren und den Bewegungen meiner Augen folgten. Natürlich ging ich auch da von Arzt zu Arzt und von Augenklinik zu Augenklinik. Ergebnis: Null.
Und auch die beunruhigenden Herzrhythmusstörungen waren ständig da. Sie riefen mir zu: „Stopp mal!“
Worum mich andere beneideten, mein geringes Gewicht, war für mich ebenfalls ein Problem. Je mehr Stress ich hatte, umso mehr hingen meine Anzüge schlapp an mir herum und die Hemdkrägen hatten zu viel Luft. Dann sieht man erst krank aus.
Meine Nase war ständig verstopft. Sie schien meinem Körper mitteilen zu wollen, dass sie die „Nase einfach voll davon hat“. Natürlich ging ich wiederum von Arzt zu Arzt. Und weil ich Privatpatient war (?), ließ ich mich zu einer Operation der Nasenscheidewand überreden. Ebenfalls ohne positives Ergebnis.
Alle möglichen Muskeln waren jahrelang verkrampft und verhärtet. Auch hier hat mein Körper wohl aufgeschrien und versucht, mir zu sagen: „Entspanne Dich, lass mal locker“. Natürlich habe ich es mit Massagen und Physiotherapie versucht. (Brachte alles rein gar nichts.)
Die Kette aller „Nichtkrankheiten“, die ich nach schulmedizinischer Lesart hatte und die sämtlich frustrierend erfolglosen Behandlungen ließen sich noch endlos fortsetzen.
Hätte auch nur ein einziges Mal ein Arzt gesagt: Sie müssen abschalten, runterfahren, sie sind ausgebrannt… dann hätte ich vielleicht bemerkt, dass mein Körper einfach nur nach Hilfe geschrien hat.
Oder ich hätte jemanden gebraucht wie Ingrid, die mich mit dem Vorschlaghammer zu mir selbst bringt.
Und ich hätte dann in Wikipedia lesen können:
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„Burnout ist keine Krankheit, sondern ein Problem der Lebensbewältigung.“
Er „kann als Endzustand einer Entwicklungslinie bezeichnet werden, die mit idealistischer Begeisterung beginnt und über frustrierende Erlebnisse zu Desillusionierung und Apathie, psychosomatischen Erkrankungen und Depression oder Aggressivität und einer erhöhten Suchtgefährdung führt.“ [8]
Burnout ist medizinisch kein gefestigter Begriff. Vielmehr handelt es sich um eine sogenannte Erschöpfungsdepression. Burnout hört sich aber natürlich viel besser an. Denn wer ist schon „faul und depressiv“? Ausgebrannt hingegen kann nur der sein, der zuvor gebrannt hat und das ist gesellschaftlich o.k. Es ist sogar ein Aushängeschild.
Ständige Müdigkeit und Vergesslichkeit haben doch auch nichts mit einer Depression zu tun, oder? Und dass mir alle anderen immer mehr auf den Wecker gingen, was hat das schon mit einer Depression zu tun? Auch, das immer alles an mir hängengeblieben ist, was hat das damit zu tun? Es ist eben so. Es ist halt mein Schicksal, dass ich so viel um die Ohren habe und nicht hart genug dafür bin.
Klartext hat nur meine Frau geredet. Nach 14 Tagen ununterbrochener Arbeit hat sie, als ich mich wieder davon machen wollte, das erste Mal gesagt:
„Du bist doch echt krank!“
Das hat mich tief verletzt, aber ich habe trotzdem nichts über mich selbst begriffen. Wer hält sich schon selbst für krank? Noch dazu, wenn es um das Tabuthema des eigenen Kopfes geht?
Natürlich sind den andauernden extremen seelischen Hochphasen auch regelmäßig Tiefs gefolgt. Klar. Aber die waren kurz und selten. Und sie waren nicht das, was ich jetzt am Jakobsweg als schmerzhaft oder befreiend erlebe. Nein, sie waren depressiv. Nur ich wusste es damals nicht!
Niemand, wirklich niemand aus meinem Freundeskreis hätte wohl jemals auf Depression getippt. Ausgeschlossen. Zu 95% war ich ja stets besser drauf, als alle anderen.
Die Tiefs kamen dann häufiger und es ging allmählich auch weiter in den Abgrund hinab. Gefühlszustände wie Unruhe entwickelten sich schnell mal zur handfesten Angst, dann zur Panik. Und sie kamen irrational, ohne erkennbaren Grund. Existenzangst, Selbstzweifel und angsteinflößende Denkspiralen.
Nachdenken über das eigene Handeln war erst noch normale Selbstkritik, daraus wurden immer öfter andauernde Selbstzweifel und schließlich kleinere Nervenzusammenbrüche, die aber außer meiner Frau, keiner so wirklich bemerkt hat oder bemerken wollte.
Wut und Ohnmachtgefühlen setzte ich Sport dagegen. Aber aus normalem und gesundem Sport wurde immer öfter ein rücksichtsloses Auspeitschen meines Körpers bis zum Allerletzten. Auch hier bemerkte meine Umwelt nichts, außer dass man eben aktiver (oder aggressiver) ist, als andere.
Getreten von Vocal Trance mit 146 bpm (beats per minute), meine Frau nennt es abwertend Techno, belohnten mich meine Glücksgefühle nur noch dann, wenn ich kurz vor dem Umkippen war. Die Taktrate meiner „Musik“ war schneller als jeder Hip-Hop und schneller als jeder vernünftige Dauerpuls.
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Flucht, Angriff oder tot stellen
Das sind die drei Grundalgorithmen unseres Steinzeitgehirns, welches in Form des kleinen Mandelkerns noch immer in uns wohnt. Aja, Angst muss ich noch hinzufügen. Nur wenn dieser Mandelkern, die Amygdala Ruhe gibt, kann sich ein normales und ausgeglichenes Leben einstellen. Nur dann können sich wieder Freude, Sorglosigkeit und Neugierde breit machen.
Der Normalfall wäre ja ein Leben ohne Angstzustände und ohne störenden Dauerstress unserer Steinzeitprogramme. Doch von dieser Lebensqualität habe ich mich offenbar über lange Jahre hinweg entfernt. Nur, dass ich es selbst natürlich nie begriffen habe!
Immer öfter hat die Amygdala bei mir die Regie übernommen, um mich vor dem „bösen Treiben“ da draußen zu bewahren. Nicht exakt greifbare Situationen – stets offener Ausgang – hat meinen Mandelkern dazu gebracht, sich über das normale Ich zu stellen und den Ton anzugeben. Immer dann, wenn es keine Lösung gab, versuchte ich entweder in die Vergangenheit zu flüchten, oder mir wenigstens alle nur irgendwie erdenklichen Szenarien ausufernd herzudenken. Für die Gegenwart war logischerweise kein Platz mehr.
Fremdgesteuert
Doch je öfter der Mandelkern das Kommando übernommen hatte, umso selbstverständlicher wurden Reaktionen wie Flucht, Angriff oder tot stellen. Doch vor was soll man in der modernen Welt flüchten? Nun, da fällt mir hier am Jakobsweg plötzlich eine ganze Menge ein: Unbequeme Aufgaben, die man schon lange vor sich herschiebt. Und deren Last immer größer wird. Flucht vor den eigentlichen Aufgaben hinein in eine andere ganze eigene abstrakte Welt. Spielereien am Computer, vom Hundertsten ins Tausendste, von der Sache her natürlich völlig unwichtig. Flucht vor Menschen, Meetings und Vorträgen. Flucht vor dem eigenen Freundeskreis. Flucht vor Spontanität, Aktivität. Hinein in die depressive Isolation. Depressiv? Nein, natürlich nicht. Denn selbst bemerkt man es ja nicht. Und der Freundeskreis akzeptiert einen dummerweise als Leistungsträger, zu dem die stete Unruhe einfach dazu gehört.
Letztendlich kann man vor der eigentlichen Arbeit, vor dem eigentlichen Chef aber nicht flüchten. Man sucht – vielmehr sucht die Amygdala – nach einem anderen probaten Mittel:
Stufe zwei – der Angriff!
Doch wen soll man angreifen? Den Chef? Oder dann doch lieber „weiche“ Ersatzziele? Hier kann man die eigenen Aggressionen dann doch noch „gefahrlos“ ablassen! Und all das ist nichts anderes, als die Fremdsteuerung durch diese kleine Amygdala, die sich damit Luft verschaffen möchte, in dem der Körper die von ihr ausgeschütteten Stresshormone irgendwie (oder an irgendwem) wieder abbaut.
Auch, dass ich andere ständig „unterbrochen“ habe, war so eine Art ständige Angriffsreaktion. Und andere haben sie durchaus auch als solche empfunden.
Bei mir gibt und gab es natürlich nie ein wirkliches Feindbild. Einfach alles hat mich aufgehalten, gestört und genervt. Immer wieder hat die Amygdala den Angriff befohlen. Selbst den Briefkasten und die Postbotin hat sie als angsterregendes Feindbild ausgemacht. Ganz so wie bei einem Hund.
Der Hund meiner Schwiegereltern kann beim Anblick des Postautos gar nicht anders, als sofort auszuflippen. Da hilft dann auch kein „Blacky – aus!“ mehr. Seine Amygdala hat schon beim kleinsten Motorengeräusch des Postautos entsprechende „Neurotransmitter“ auf die Reise zu den Nervenzellen geschickt. Und auch beim Hund weiß die Amygdala: Angekettet ist mein Fluchtprogramm unbrauchbar. Es bleibt nur der Angriff!
Nicht umsonst hat man noch in der Antike den Überbringer schlechter Nachrichten geköpft…
… und sich so von den üblen Stresshormonen befreit, die die Amygdala soeben in die Blutgefäße ausgeschüttet hat. (Kein schlechtes Beispiel.)
Gäbe es da nicht auch das zivilisierte und kultivierte Gehirn. Ständige Flucht und diffuser Angriff sind in der heutigen Zeit keine brauchbaren Optionen mehr. Man beißt sich da schließlich durch (ein anderer Ausdruck für Angriff?).
Bleibt Programm Nummer drei:
Das Totstellen!
Ist es nicht erstaunlich, wie wir nach all den Jahrmillionen noch immer von drei übermächtigen Basisprogrammen beherrscht werden? Ich bin krank, kann nicht aufs Meeting fahren. Den Termin morgen musst du übernehmen, ich muss noch usw…
Und da gibt es dann auch noch die Menschen, denen man irgendwann mit Geld, viel Geld geholfen hat. Und die sind irgendwann untergetaucht. Nicht mehr erreichbar. Warum nur? Klar: Sie können gar nicht anders!
Sie können nicht mehr flüchten! Und sie können auch nicht angreifen! Sie müssen sich tot stellen („den Kopf in den Sand stecken“). Ein anderes Programm hat der Mandelkern einfach nicht parat. Für die Steinzeit hat das auch gereicht, denn der Feind ist vielleicht wieder abgezogen. Doch heute kommt er immer wieder zurück. Schulden verjähren nicht so schnell!
Auch wenn wir unseren lieben Freund, dem wir noch damals geholfen haben, nun nicht mehr verstehen: Es ist Programm Nummer drei, dem er nicht entrinnen kann!
Allzu oft habe ich mich gefragt: Warum ruft er nicht mehr an? Warum redet er nicht mit mir über seine Sorgen? Ich würde ihn doch verschonen, ihn sogar verstehen. Aber er stellt sich tot.
Schon merkwürdig. Obwohl ich genau dieselben Programme in mir trage, verstehe ich den anderen nicht mehr.
Habe ich mich selbst auch tot gestellt? Ich würde sagen nein, so weit war es bei mir nicht. Doch bei genauerer Betrachtung habe ich viele Probleme meiner Frau überlassen. Sie hat ihren Kopf für alles hingehalten und irgendwann geschwiegen, um mich nicht mehr zu belasten. Und genau das, dieses tiefe Gefühl, nicht mehr teil zu haben und nicht mehr selbst Regie zu führen hat mich nur noch tiefer in meine Angstspiralen hinein gezogen.
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Weiter nach Bilbo…
Eine seltsame Mischung der Leere und Neugierde begleitet mich auf die Bergkuppe vor Bilbao. Ich bin jetzt völlig ausgelaugt. Und es fehlt mir an Trinkwasser. Nur eine Reserve-Apfelhälfte habe ich noch bei mir.
Oben an einem Sendemast angekommen, tut sich ein fantastischer Rundblick auf Bilbao auf. Auch die Sonne kommt nun heraus. „Bilbo“, wie die Basken Ihre Stadt liebevoll nennen, liegt unter mir. Von hier oben aus ist es ein langer, schmaler Schlauch. Bilbo schlängelt sich dicht entlang des Flusses Nervión, der im Vorort Portugalete in den Golf von Biskaya mündet.
Eingezwängt wird Bilbo mir gegenüber von den Bergketten um den Ganekogorta (998m). Auf meiner Linken durch den Mugarra Peak (936m), und den Anboto (1331m). Dazwischen verläuft der Paso del Diablo „Pass des Teufels“.
Bilbo ist neben Malta eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Europas. Wenn gleich die Grenzen von hier oben sehr überschaubar sind.
Bergab bietet sich mir ein Blick wie aus dem Cockpit eines landenden Flugzeuges. Weil mein „Fahrwerk“ beim steilen Bergab schmerzt, wünschte ich mir so etwas wie bremsende Landeklappen.
In Sandalen unterwegs
Schließlich bin ich noch immer in meinen Sandalen unterwegs. Auf der steilen Asphaltpiste schmieren meine Zehen oft nach vorne ab und berühren den Boden. Das tut weh.
Doch jetzt lenkt mich ein großartiger Picknick Platz ab. Das Grün erstreckt sich gleich über mehrere Treppen. Eine Großfamilie ist beim Grillen. Der Duft von gegrilltem Fleisch erfüllt schon von weitem die Luft. Mir ist aber nur nach Trinken zu Mute. Soll ich die Familie danach fragen? Ganz bestimmt würden sie mir etwas abgegeben. Doch nach Gesellschaft ist mir im Augenblick nicht.
Gut, dass ich einen Brunnen vorfinde. So bleibt mir die Bettelei erspart. Ich kann endlich ausgiebig trinken und meine Tränen aus dem Gesicht waschen.
Im langsamen Landeanflug tauche ich blitzartig ein in das quirlige Leben. Bergab spiele ich wie ein Kind Flugzeug und breite meine Arme aus. Wenn mich jetzt jemand sehen würde.
Der fröhliche Vorort mit spielenden Kindern und auf Parkbänken sitzenden Alten muntert mich richtig auf. Aus den gelben Pfeilen des Jakobsweges sind schon seit geraumer Zeit stabile hölzerne Schilder geworden. Diese werden nun abermals abgelöst. Im Bodenbelag eingelassen glänzen jetzt dafür edle Jakobsfliesen. Leider gibt es diese nur sporadisch. Ohne Guide würden sich die Spuren des Caminos im bunten Treiben der Vororte schnell verlieren.
Die letzten Meter führt mich eine alte Steintreppe hinab zum Plaza de Unamuno, mitten in der Altstadt. Ein Juwel. Für einige Minuten setze ich mich nieder auf eine der alten Steinstufen. Schüchtern sehe von hier aus dem geselligen Durcheinander auf der Plaza zu. Es gefällt mir hier.
Dann fasse ich mir ein Herz und stürze mich hinein in den pulsierenden Markt. Nebenbei gibt es im Gehen ein Eis. Vanille, Banane und eine Kugel undefinierbares Grün. Und ich besorge mir für meine Kinder Postkarten und Briefmarken.
Vor mir repräsentiert die Santiago-Kathedrale längst vergangene Zeiten. Aber heute habe ich keine Lust auf Kirchenbesuche.
Wie zuvorkommend und höflich die Menschen in Bilbo sind, erfahre ich an einem Taxistand. Ich habe schon länger keine Wegweiser mehr gefunden. Natürlich bin ich längst nicht mehr da, wo ich nach meinem Guide sein sollte. Wo also bin ich und wie geht es von hier aus weiter?
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Ja, er zeigt mir den Weg!
Ein Taxifahrer mit hell grünem Hemd kommt lächelnd auf mich zu. In der Hand winkt er mit einem Stadtplan. Es wird im klar sein, dass ich nicht sein Fahrgast werde. Dennoch will er mir helfen. Geduldig markiert er mit einem blauen Kugelschreiber der spanischen Allianz die aktuelle Position. Gott sei Dank schenkt er mir nicht den Kugelschreiber, sondern den Stadtplan.
Recht ehrlich markiert er mir den kürzesten Weg. Mit einer ausschweifenden Kreisbewegung zeigt er dann grinsend, welchen Weg er mit einem betuchten Fahrgast wohl genommen hätte. Da muss ich lachen und klopfe ihm wie zum Dank auf seine linke Schulter. „Gracias por todo!“
Bilbo ist eine der Städte, an denen sich eine Kulturpause wahrhaftig rentieren würde. Angefangen vom Guggenheim-Museum über das Schifffahrtsmuseum und der ältesten Schwebefähre der Welt. Bis hin zu den Menschen, Festen und einem quirligen Nachtleben, soll es hier für jeden Geschmack etwas Passendes geben.
Die Jugendherberge liegt am anderen Ende der Stadt. Es handelt sich dabei um ein modernes Hochhaus, welches so ganz und gar nicht zum Jakobsweg passt.
Die Unterkunft im sechsten Stock hat aber auch etwas für sich. Der Ausblick ist vergleichbar mit dem einer noblen Penthousewohnung. Widererwarten sind die Zimmer klein, sauber und nicht überfüllt. Mein Zimmer teile ich mir nur noch mit einem portugiesischen Fernfahrer und einem Pilger: Dem Weihnachtsmann!
Jean-Louis, der weißbärtige Franzose sieht mich und empfängt mich einem überschwänglichen „Aaaah mon Amieeee, Bonjouuuur“.