LIENDO – GÜEMES
Liendo – Güemes
Tag 9: 40 Km (+5 km Umweg), 700 Höhenmeter, über Laredo, Santoña, Berría, Noja, Arnuero.
Nach diesem Tag habe ich in meinem Tagebuch 40+++ Kilometer notiert. Das Plus steht wieder einmal für unfreiwillige – aber dafür auch sehr schöne Umwege. Die beschert mir regelmäßig mein nicht vorhandener Orientierungssinn. In mein Tagebuch habe ich zu dieser Etappe dann auch noch notiert „scheiß Asphalt“ und „falsch beschildert“.
Aber ganz so war das nicht. Im Morgengrauen gehe ich zunächst noch mit Jean-Louis zusammen. Wortlos. Und mit großem Abstand. Trotz Schlaf ab zwei Uhr morgens geht es uns nicht wirklich gut. Es mag sein, dass ein Gläschen Rotwein, vielleicht auch zwei, dem Pilgern nicht entgegen stehen. Aber den gestrigen Abend muss jeder von uns heute büßen. Noch einmal wird mir so etwas nicht passieren.
Während sonst die Füße wie von ganz allein vor sich hinschreiten, lähmt mich heute eine unterschwellige Übelkeit. Jean-Louis hat richtig Kopfschmerzen und scheint keinen rechten Takt zum Gehen zu finden. Gerade noch einmal der Saufhölle entkommen, schleppen wir uns nun ziemlich mühsam vorwärts.
Traumstrand Laredo
Mit Abstand zueinander gehen wir bis zur langgestreckten Küstenstadt Laredo. Zum Fotografieren ist es eigentlich noch zu dunkel. Trotzdem hole ich meine kleine Knipsmaschine heraus und fange den sagenhaften Blick ein. Über Laredo schweben dunkle Wolken, während weiter hinten über der ewig langgestreckten aber kreisrunden Bucht schon tiefblauer Himmel ist. Die Bucht scheint von hier aus ein fast kompletter Kreisbogen zu sein, der sich nur zu meiner Rechten hin zum Ozean öffnet.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht erheben sich grüne Hügel. Und hier ganz hinten scheint sogar noch eine weitere Bucht zu liegen, was man aber von hier aus nicht richtig sieht. Am Ende des Kreisbogens ragt eine mächtige bewachsene Klippe aus dem Strand, die wie eine eigene Insel aussieht.
Laredo selbst wird noch in das monochrome orangefarbene Licht der Straßenlampen getaucht, doch es erwacht gerade.
An den weiten Sandstränden von Laredo sind sich nun der französische Reiseführer und der deutsche Guide uneinig. „Sarkozy gegen Merkel“, wie Jean-Louis süffisant anmerkte. Weil es beiden von uns noch immer nicht gut geht, läuft jeder schweigend in seine eigene Richtung davon. Jean-Louis zieht ohne Worte in Richtung Laredo nach links davon. Ich nehme mir den Strand vor. Und ich riskierte es wieder Barfuß.
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Gute zehn Kilometer Sand liegen jetzt vor mir.
Wie soll man eine so traumhafte und kreisrunde Bucht beschreiben? Der Strand ist unheimlich flach und an vielen Stellen wohl mehrere Hundert Meter breit. Menschen sind nur vereinzelt. Mal hier einer, mal in der Ferne ein anderer.
Ich gehe, ohne wirklich das Gefühl zu haben, dass ich auch voran komme. So weitläufig ist dieser Strand.
Gute zehn Minuten brauche ich, um mich langsam einer Schulklasse zu nähern, die hier in aller Herrgottsfrüh mit ihren Lehrkräften unterwegs sind. Es sind höchstens Viertklässler und entsprechend kunterbunt und schrill geht es zu.
Lange habe ich nun überlegt, ob ich einen großen Bogen um die weit verteilten Schüler machen soll. Doch sie alle befinden sich genau auf der Linie, die ich mir ausgedacht habe. Also gehe ich direkt auf das immer lauterwerdende und fröhliche Getümmel zu. Mit meinem Gepäck komme ich mir hier am Strand vor, wie von einem anderen Planeten. Wenigstens erweise ich dem Strand insofern Respekt, indem ich barfuß marschiere. Ein großer Vertrauensvorschuss dem Strand gegenüber!
Mit meinen Fußspuren zerschneide ich das Areal der Schüler wie mit einem langen Strich in zwei Hälften. Keiner nimmt irgendwie Notiz von mir. Ganz so, als wenn ich aus Luft wäre. Ein eigenartiges Gefühl.
Nach einer guten Stunde am Strand entlang steh ich dann vor dem Problem, wie man hier wohl eine Pinkelpause machen könnte. Mittlerweile sind schon ein paar morgendliche Jogger, ein paar Badegäste und ein paar Spaziergänger unterwegs, die ihre Hunde am Strand ausführen. Ja, ein Hund müsste man jetzt sein. Dann könnte ich ganz ungeniert hier mein Revier markieren. Aber als Mensch einfach so hinstellen? Das geht nun gar nicht. Ich löse das Problem, aber beschreiben möchte ich es an dieser Stelle lieber nicht.
Noch eine weitere Stunde geht im Sand dahin. Plötzlich spüre ich Muskeln und Sehnen, die ich bisher noch nicht so sehr beansprucht habe.
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Barfuß laufen ist ein Hochgefühl.
Und noch dazu im feinen Sand.
Immer wieder experimentiere ich ein wenig herum, was sich besser anfühlt. Das Laufen im feinkörnigen trockenen Strand. Das ist am weichsten, strengt aber gehörig an. Und das Marschieren über den feucht gepressten Sand direkt an der Wasserkante. Auch da sinken meine Fußballen noch ein, es strengt aber viel weniger an. Und dann ist da das Laufen zwischen den Wellen. Mal Sand, Mal Wasser, das den Sand durch meine Zehen spült. Zugegeben, das macht am meisten Spaß. Doch im Schaum sehe ich nicht, was unter meinen Füßen ist und das ist mir dann doch ein wenig zu riskant.
In der normalen Zivilisation, kann man so etwas ja gar nicht mehr so ohne weiteres machen. Einfach die Schuhe ausziehen. Aber da bin ich wieder bei der Religion. Oder vielmehr: Bei den Religionen.
Beim Besuch einer Moschee zieht man auch heute noch die Schuhe aus, fällt mir ein. Und die Mönche, die ich auf meinen vielen Thailandreisen gesehen habe, die haben auch keine Schuhe getragen.
Auch hier musste ich meine Schuhe ausziehen, um besonders heilige Stätten zu besuchen. Gleiches gilt für alle Hindus.
Meine heilige Stätte ist heute dieser nicht enden wollende Strand.
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Wenn man den Boden nicht mehr spürt
Wer hat eigentlich Schuhe erfunden? Und weshalb? Vermutlich sind Schuhe die Eintrittskarte in unsere unechte Parallelwelt. Die wirkliche Welt spielt sich da draußen im Freien ab. Hier am Strand!
Schuhe trennen uns endgültig von unserem eigenen Boden und den Wurzeln. Sie durchbrechen die Millionen Jahre alte Verbindung aller Landlebewesen, die noch immer mit Ihren Pfoten ihre eigene Welt berühren dürfen. Der Boden erdet sie zuverlässig und verbindet sie untrennbar mit dem Untergrund.
Der Hund, den ich vorher am Strand gesehen habe, wird bestimmt nie Schuhe tragen müssen. Außer er hätte ein Irrenhaus reifes Herrchen.
Noch vor wenigen Generationen war das Barfußgehen bei uns Menschen noch ganz normal. Alles war langsamer, direkter und unmittelbarer. Man stand mit den Füßen auf dem Boden und hatte wohl auch keinen Burnout.
Alles ist spürbar.
Mit den Füßen! Heute kümmert sich eine ganze Industrie um das Wohl unserer Füße, weil der spezifische Widerstand der Schuhsohle das natürliche Band zur „Erde“ durchtrennt hat. Nach „Erdung“ suchend, glauben wir nur zu gern, was uns die Werbung verspricht und kaufen, was unseren Füßen Erlösung verspricht. Immer neue Erfindung wie runde Fußsohlen in den Sohlen erobern den Markt. Dabei trennen uns all diese Erfindungen mit dem Isolator Plastik von unserem natürlichen Fundament. Einen natürlichen Potenzialausgleich gibt es nicht mehr. Spannung kann sich nicht mehr abbauen.
Immer sind es mindestens zwei Zentimeter „Kunst“stoff – der Name sagt alles – der uns dauerhaft in Form einer giftstoffreichen Isocyanat-haltigen Hightech-Sohle von unserer „Unterwelt“ isoliert. Wer kennt nicht den beißenden Gestank eines modernen Schuhladens, der längst nicht mehr mit Leder, sondern eher mit Weichmachern und ausdünstenden Giftcocktails zu tun hat. Ein Schuhgeschäft wäre auch das einzige, wo ich niemals arbeiten möchte.
All das Giftzeug engt unsere Füße täglich ein und mit ihnen beengt es unwillkürlich auch unser seelisches Gleichgewicht. Schulmedizinisch natürlich nicht bewiesen. Aber eine Rückkopplung wird es schon geben. Diese unmittelbare Rückkopplung spüre ich gerade bei meinem Strandlauf. Da kommen gerade tausendfache Signale in meinem Gehirn an und machen mich ein wenig euphorisch. Doch bald werde ich meine Schuhe wieder anziehen müssen.
An Stelle von weichem Erdreich stehen wir dann wieder auf Antifußpilzeinlagen, modernen Dämpfungs- und Belüftungssystemen und unsere Kinder sogar auf blinkenden LED‘s.
Wie sollen unsere Füße da noch fühlen können? Wie sollen wir mit unserer Umgebung noch eine intensive Wechselwirkung eingehen können, wenn wir in synthetischen Kunststoffklumpen umherwandeln? Und wie sollen wir da noch von Selbstheilungskräften profitieren können, wenn es sie denn gibt?
Obwohl wir als eine der wenigen Spezies den aufrechten Gang erlernt haben und nun das Ich hoch oben tragen, ist unser Ich bis vor Kurzem über die feinfühligen Füße mit unserer Welt nachhaltig verbunden gewesen.
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Jahrmillionen alte Reflexzonen
Nach traditioneller Medizin sitzen Jahrmillionen alte Rezeptoren (bei mir natürlich erst 44 Jahre alt) an unseren Fußunterseiten, die alle inneren Organe an bestimmten Punkten widerspiegeln und so ihre Entsprechung wie eine Landkarte des ganzen Körpers abbilden. Und wenn es sie tatsächlich gibt, dann warten sie nur darauf, dass sie endlich hin und wieder berührt und stimuliert werden. Barfuß!
Hier auf dem Jakobsweg sind meine Füße nicht nur das Arbeitstier, sondern auch ein Körperteil, den ich soweit es geht pflege und dem ich schöne Momente gönne.
Weiter geht es also im aufrechten Gang eines modernen Menschen in Richtung Ende des Strandes. Noch immer träume ich vor mich hin. Die Sonne ist inzwischen aber ziemlich heiß geworden.
Der Weg gibt einem alles, was man braucht
Wau, und da liegen sie plötzlich direkt vor meinen Füßen: Echte Jakobsmuscheln. Ich muss mir also keine mehr kaufen. Vier orange bis rosafarbene schöne kleine Jakobsmuscheln. Drei davon werde ich morgen nach Hause schicken. Eine davon soll mich von nun an begleiten. Zwar habe ich keine Bohrmaschine bei mir. Aber auch ohne Loch kann man eine Jakobsmuschel am Rucksack befestigen: Mit Leukoplast. Romantisch sieht das natürlich nicht aus. Aber Not macht erfinderisch. Blöder Spruch eigentlich, denn Not habe ich nun wirklich keine. Ab jetzt werden mich viele Pilger auf meine Befestigungsstrategie ansprechen! Das ist es doch wert.
Am Spitz der Bucht soll es laut Reiseführer mit einem Fährboot ein paar Hundert Meter zur gegenüber liegenden Küste gehen. Ich bezweifle, dass ich hier richtig bin. Denn schon wieder bin ich hier ganz allein. Und nichts, aber auch gar nichts deutet hier auf ein Fährboot hin. Hier ist kein Steg, kein Schild, kein Mensch. Nur Strand. Und das, was ich heute Früh von weitem gesehen habe, entpuppt sich nun als weitere ganz schmale Bucht, vielleicht auch eine Flussmündung. Ich weiße es nicht. Ich muss bloß irgendwie hier rüber kommen.
Flirten gehört zum Leben!
Aus dem Nichts heraus kommt eine nette Spanierin aus Laredo zum Strand und stellt sich zu mir dazu. Sie nährt jetzt meine Zuversicht auf eine Überfahrt. Im Reiseführer heißt es recht wage „… sollten sie sich… erkundigen, ob und wann ein Schiff von El Puntal nach Santoña verkehrt…, sonst könnte es passieren, dass sie eine böse Überraschung erleben“. [10] Das Schiff kam aber. Zu zweit setzten wir über nach Santoña. Die Spanierin interessiert sich entweder für den Jakobsweg oder für mich. Auf jeden Fall haben wir eine sehr unterhaltsame Viertelstunde an Bord. Und ein wenig Flirten tut einfach gut. Weitere Passagiere? Nein. Wir sind die einzigen.
Trotz Rucksack spiele ich beim Anlanden Kavalier und nehme die Spanierin an die Hand. Sie lächelt mich an und meint dann respektvoll so was wie „Deutsche sind einfach charmant, spanische Männer machen das nicht“. So ein Kompliment tut natürlich gut und ich gehe bestens gelaunt weiter.
Heute scheint die Sonne nicht nur, sie knallt voll herunter. Es ist zudem recht schwül. Der Himmel ist endlich nicht mehr bewölkt, sondern völlig klar und blau. Hier packe ich jetzt meinen Safarihut aus, den mir Conny mitgegeben hat. Ich stelle fest, dass er dummerweise gefüttert ist. Aber ich habe eben auch keinen anderen. Also drauf damit.
Einige Kilometer folge ich nun der unbefahrenen schnurgeraden Landstraße, die sich hier wieder einmal als Jakobsweg ausgibt. Erst später lese ich im Guide, dass es sich hier um einen erheblichen Umweg handelt, den man sich nur zumuten sollte, wenn man die fantastischen Sandstrände von Laredo sehen möchte. Momentan wandere ich auf der Calle General San Jurjo neben den Gefängnismauern von Felipe entlang. Ich mache mir Gedanken über die Freiheit eines Menschen.
Bestimmt habe ich heute schon mehr als vier Liter Wasser getrunken und immer noch plagt mich der Durst. Der Umweg führt mich zur Belohnung bei Berría auf einen der schönsten Naturstrände, die das Baskenland zu bieten hat. Am Strand nutze ich erst einmal eine Fußdusche zum Auftanken meiner Wasservorräte. Und das ist sehr sinnvoll.
Mit genügend Wasser an Bord kann ich mich beruhigt auf die Natur einlassen. Es folgen die schönsten Strände und Klippen, die ich je gesehen habe. Barfuß gehe ich über den feinkörnigen Strand von Berría.
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Senkrecht nach oben
Ich nähere mich dem Ende des Standes, der zu einer schroffen Felsklippe führt, die den Weg zu versperren scheint. Ein gelber Pfeil zeigt hier direkt nach oben. Ich ahne, dass mir ein beschwerlicher Abschnitt bevorsteht. Also hinein, in das Robinson-Crusoe-Abenteuer. Mein Reiseführer meint zu den gelben Pfeilen „folgen sie denen nach 150 m nicht weiter, denn das ist sehr anstrengend…“.
Papperlapapp! Ich will da hinauf. Immer da, wo man nicht hingehen soll, ist es am schönsten. Und es scheint schon von hier unten vielversprechend zu sein. Und tatsächlich entschädigt mich jeder Höhenmeter mit einer noch überragenderen Aussicht. Mehr und mehr wird der zurückliegende Sandstrand von Berría zu einem unglaublichen Postkartenmotiv im Superbreitformat. Bergauf sind meine Sandalen nicht wirklich angemessen. So kommt es, dass mich beim Aufstieg zwei als Bergsteiger hochgerüstete Engländer auf meine Schuhe ansprechen. „Really not possible“, warnen sie mich eindringlich. „Pah“, ich bin in den Bergen groß geworden. Was soll ich mir da von ein paar Insulanern vormachen lassen?
Mein Übermut ist endlich wieder da. Und allen Unkenrufen zum Trotz ist Übermut immer ein guter Begleiter. No Problem, erwidere ich etwas schnaufend. Es ist fast so befreiend, als hätte ich nach Jahrzehnten die Gelegenheit gehabt, einem meiner Lehrer zu sagen: Interessiert mich alles nicht! Bon Camino!
Apropos Selbstbewusstsein. Schon lange hat sich meine „Regenwolke“ nicht mehr zu Wort gemeldet. Und ja, ich bekomme hier so etwas wie ein wenig Selbstbewusstsein. Das jedenfalls scheint mir unablässig zu zeigen, was ohne ständige Selbstzweifel plötzlich möglich ist.
Der Aussichtspunkt, den ich jetzt erreichte, ist schlicht und einfach grandios. In einem Satz schlucke ich fast einen ganzen Liter Chlorwasser hinunter, welches ich aus der Fußdusche abgezapft habe. Meine Kleidung ist durch und durch nassgeschwitzt. Doch mein Körpergefühl ist jetzt einfach großartig.
Ich fühle mich leicht und kräftig. Und ich nehme in der Pause auch meinen Rucksack nicht ab.
Wahnsinn, was ist das für ein Ausblick!
Rechts unter mir liegt die Traumbucht von Berría. Dahinter grüne Klippen und die Unendlichkeit. Zu meiner Linken ist weit unter mir der grenzenlose Sandstrand von Noja. Der Name Noja löst in meinem Gehirn Widersprüche aus. Noja bedeutet auf Italienisch Langeweile. Dass, was unter mir ist, ist aber alles andere als langweilig. Der Strand könnte in der Karibik nicht schöner sein. Ich kenne viele Strände auf Cuba und Jamaika, doch das hier sprengt einfach alles. Hier sind weit und breit keine Hotels, keine Betonklötze und keine Schnellstraßen. Traumhaft!
Hier kann jeder Badegast gleich etliche hundert Meter sein Eigen nennen. Nichts muss man hier reservieren oder teilen.
Nach dem Abstieg in Sandalen laufe ich sofort wieder barfuß weiter. Alle Ängste einer Schnittverletzung pfeife ich in den Wind, denn ich möchte es heute vollkommen haben.
Nur die starke Sonne macht mir ein wenig Sorgen. Denn so etwas wie Sonnencreme habe ich mir als Gepäck erspart.
Also frage ich zwei junge Badegäste aus Madrid um ein wenig Sonnencreme. Die beiden meinen es dabei dermaßen gut mit mir, dass ich nun als weißer Geist weitermarschieren muss. An meiner ohnehin nicht mehr sauberen Kleidung möchte ich das Zuviel an Sonnenschutz aber auch nicht abwischen.
Leider geht es nach insgesamt 15 Kilometer Strandlauf auf härterem Terrain nach Güemes.
Die Strafe für die Sandalen
Viele asphaltierte Kilometer zermürben jetzt meinen Willen, weiter zu gehen. Mein linker Fuß ist angeschwollen. Jeder Meter wird jetzt zur echten Qual. Ich fange an, zu humpeln und ziehe mein linkes Bein nach. Immer noch laufe ich in Sandalen. Jetzt wieder auf erbarmungslos hartem Teer. Das erste Mal auf meiner Reise macht mir das Wandern nun keinen Spaß mehr. Mehr recht als schlecht kämpfe ich mich in das Bergdörfchen Güemes hoch. Klar, ich habe mich auf den letzten Metern wieder einmal zu meinen Ungunsten verlaufen. Den Abzweig zur Herberge habe ich natürlich übersehen.
Der Reiseführer preist Güemes als eine Art Kultherberge an. Ich habe aber keine Lust auf Kult oder sonst was. Nur noch ankommen möchte ich jetzt.
Gottvertrauen ist besser als ein Wettlauf
Kurz vor dem steilen Anstieg zur Albergue del Abuelo Peuto (dem „perfekten Opa“), überholen mich zwei Mercedes Kleinbusse mit einer Jugendgruppe. Mist. Konkurrenz um die Betten ausgerechnet auf den letzten Metern? Wut und Ohnmacht beherrschten mich schlagartig. Wie zu Hause in meiner Arbeit, befinde ich mich nun mitten im Wettkampf. Werden die mir jetzt mein Bett wegnehmen?
Kurz vor meinem Ziel fürchte ich nun erstmals um meinen Schlafplatz. Von weitem sehe ich dann, dass beide Busse sich verfahren. Das freut mich! Sie sind falsch abgebogen und entfernen sich wieder von der Herberge, die schon zum Greifen nahe liegt. Aber eben nur mit dem Auto. Und nun bleiben sie stehen. Ein paar Minuten, die für mich spielen.
Sie drehen um und kommen mir direkt entgegen. Gerade laufe ich über eine Weggabelung. Soll ich absichtlich vortäuschen und falsch abbiegen?
Mir stockt das Blut in den Adern. Nein, ich gehe richtig weiter. Beide Busse ziehen an mir vorbei und die Fahrer suchen meinen Blick. Ich zucke hilflos mit den Achseln, so als hätte ich die Herberge noch nicht gesehen. Sehenden Auges hätte ich sie lieber in die Wüste geschickt, als den richtigen Weg zu weisen.
Als sie weg sind, gebe ich Gas. Nur noch ein paar hundert Meter. Leider steil bergauf. Wie lange werden sie zum Aussteigen benötigen?
Ich denke nur noch an mich selbst. An meinen Schlafplatz.
Einholen geht nun nicht mehr. Und als ich völlig fertig an der Herberge ankomme, stürmen etwa dreißig Jugendliche vor mir in den Empfang.
Nun bemerke ich meinen dicken Fuß wieder und jetzt beginnt er, höllisch weh zu tun. Wie auf Kommando. Wie ein geschundener Verlierer stehe ich nun hier vor der Herberge, habe starke Schmerzen und stütze meine Hände auf die Knie. Ich bin unfähig, meinen Rucksack abzulegen und einen klaren Gedanken zu schöpfen.
Bestimmt stehe ich schon seit fünf Minuten hier draußen herum mit einer total entgeisterten Miene.
Doch dann passiert etwas Unerwartetes. Während die Jugendgruppe den gesamten Eingangsbereich in Beschlag genommen hat, kommt mir Pater Ernesto entgegen. Er sieht mich und kommt direkt auf mich zu.
Als könnte er meine Gedanken lesen, begleitet er mich mit langsamen Schritten persönlich in ein schönes geräumiges Zimmer mit abenteuerlichen Stockbetten aus Holz.
Die Jugendgruppe sei keine Konkurrenz. Sie übernachte im Zelt. Pater Ernesto findet, es sei toll von mir gewesen, den Jugendlichen den Vortritt zu gewähren. Ich wage nicht zu sagen, dass es anders war und dass ich bis zum letzten Schritt einen rücksichtslosen Kampf geführt habe, den ich verloren glaubte. Vielleicht wusste er genau das. Denn er sah mich ganz intensiv an, legte mir seine Hand auf die Schulter und sagte dann „Gott sieht es, wenn du anderen den Vortritt gewährst“.
Gott straft kleine Sünden nicht sofort…
…und auch nicht später. Denn einen nachtragenden Gott kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen. Verstanden habe ich trotzdem.
Vor dem gemeinsamen Pilgermenü lädt Pater Ernesto alle Pilger ein zu einem seiner legendären Vorträge. Natürlich im Ambiente seiner urigen und skurrilen Hausbibliothek. Sie ist übervoll mit Landkarten, Büchern und allen erdenkbaren Pilgerutensilien. Pater Ernesto ist selbst Pilger und für sein hohes Alter noch unglaublich fit. Sein Großvater hat die Herberge 1911 hier eingerichtet.
Zusammen mit einer Pilgerin, die spontan als Dolmetscherin eingespannt wird, erzählte Ernesto über die Philosophie des Pilgerns. Und über Land und Leute, Sitten und Unsitten. Ernesto erregt sich ganz besonders über die weltfremde EU-Politik aus dem fernen Brüssel. Jahrhunderte alte und völlig intakte Mischwälder werden seiner Ansicht nach mit EU-Subventionen abgeholzt. Im Anschluss daran wird schnell wachsender Eukalyptus angepflanzt. Deforestación ist das spanische Wort für die Abholzung. Eukalyptus zehrt schon in den ersten Jahren den Boden vollkommen aus. Seine Blätter verrotten nicht und würgen die übrige Vegetation am Waldboden ab. Zurück bleiben trostlose Monokulturen.
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Entbehrungen sind eine Glücksquelle
Wie ein Paukenschlag für die vielen geschundenen und modern ausgerüsteten Pilger sind auch seine spartanischen Ansichten zum Pilgern. Pater Ernesto verdonnert IPhones, Navis, Reservierungen per Handy und das Hotelpilgern mit Kreditkarten in das Reich von lebensunfähigen Industrie-Idioten. Das macht schon nachdenklich.
Wer sich stets nur auf den Luxus allgegenwärtiger Geldquellen verlasse, würde den Geist des Weges niemals erfahren. Seiner Meinung nach besteht eine der wirklich großen Herausforderungen des Pilgerns aus Entbehrungen. Es sei die Kraft, aus den eigenen Ressourcen etwas zu machen. Etwas mit den Habseligkeiten erfinden. Etwas improvisieren.
Das ist meine nächste Lektion.
Schiele nicht auf dass, was du nicht hast. Nutze die Ressourcen, die du bei dir hast. Mache etwas daraus.
Ernesto meint damit, dass man viele Probleme mit ganz einfachen Mitteln lösen kann. Z.B. mit Schnur, Messer und Leukoplast. Er meint, dass man sich mit wenigen Handgriffen vieles herstellen könne, was ein Weitergehen auch ohne Supermarkt ermögliche. Statt sich das Denken von einem Navi abnehmen zu lassen, könne man den Stand der Sonne beobachten. Oder die Richtung des Windes. Und man könne fragen, bitten und beten.
Mit Gott sprechen?
Man könne sogar mit Gott sprechen. Wem das zu religiös sei, der könne in sich selbst hinein hören und das eigene Ich um eine Antwort bitten. Man dürfe Umwege ruhig als gottgegeben sehen. (Dieser Satz ist wohl speziell für mich gedacht.) Und man soll Hilfe dankbar annehmen. Wenn man Hilfe annehme, dann tue man auch dem, der hilft, einen Gefallen.
Im Anschluss an diese leidenschaftliche Predigt, finden wir uns in dem kultigen Essensraum ein. Er erinnert mich ein wenig an das Flair einer kitschigen Berghütte. Hier in Güemes sind viele Pilger neu gestartet. Ich schätze sie auf gute 50 Gleichgesinnte und hoffe natürlich, dass sich die in den nächsten Tagen alle wieder verteilen. In Anbetracht meiner Fußschmerzen kann ich denen aber wohl morgen kaum davon laufen.
So richtig anfreunden kann ich mich mit der großen Menschenmenge nicht. Aber ich genieße es, an unserem Tisch in allen Sprachen hin- und her zu Switchen. Jean-Louis ist an diesem Abend ein wenig deprimiert, weil er der einzige Franzose ist und seine Verständigung an der Sprache scheitert.
Er beneidet all die anderen, von denen jeder mindestens eine weitere Sprache beherrscht. Und seien es nur ein paar Wörter. Jean-Louis meint, er hätte seiner Zeit in Frankreich nicht die Chance für eine Fremdsprache erkannt. La Grande Nation spricht französisch. Das musste reichen.
Jean-Louis beneidet die junge Generation, die nun sicher englisch, oft sogar deutsch und spanisch lernt. Er beneidet uns alle so sehr, dass er mitten in seinen Ausführungen feuchte Augen bekommt, aufsteht und in seine Unterkunft verschwindet. Dort finde ich ihn später mit kleinen Kopfhörern im Ohr. Er lernt spanisch! Leise murmelte er das nach, was ihm sein IPhone vorspielt.
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