LLANES – RIBADESELLA
Llanes – Ribadesella
Tag 15: 30 Kilometer, 550 Höhenmeter, über Barro, Naves, Piñeres, Cuerres.
Wie immer, bin ich wach und sofort fertig. Jean-Louis dagegen besteht heute auf sein „Petit déjeuner – Frühstück“. Also warte ich geduldig und gehe dann mit ihm gemeinsam los. So etwas wie Stress kenne ich nicht mehr.
Und auch sonst geht es mir so gut, wie lange nicht mehr. Da waren schon lange keine Herzrhythmusstörungen mehr. Und die Schlieren vor den Augen sind auf wundersame Weise verschwunden. Meine Nase ist vollkommen frei, meine Knie und meine Füße wollen laufen! Auch mein Gepäck ist zu einem festen und nicht mehr störenden Bestandteil meines Körpers geworden. Mit Gepäck fühle ich mich normal. Mehr noch, ich freue mich, wenn ich es endlich wieder am Rücken habe, sonst fehlt mir etwas! Jeden Tag freue ich mich aufs Neue, wenn ich loslaufen darf, die Herberge hinter mir lasse und nach vorne sehen kann.
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All die Sorgen und Ängste von „früher“ sind spurlos verschwunden. Nichts davon ist mehr präsent. Und meine „Regenwolke“ funkt mir nicht mehr dazwischen. Sie hat wohl erkannt: Ich brauche sie nicht mehr! Umso mehr spüre ich tagtäglich große Freude an alldem, was ich mir mit meinen eigenen Schritten erlaufen kann.
Es nieselt heute leicht, ist aber sehr angenehm zum Laufen. Die Strände kurz nach Llanes sind um diese Zeit noch einsame Buchten. Wild und ungestüm bläst der auflandige Wind die Brecher auf den feinen Sandstrand. Gerade ist Ebbe und wir ziehen am Playa de Palombina unsere Schuhe aus, um diesen herrlichen Augenblick zu genießen. Wir „nehmen“ uns die Zeit einfach, ohne an ein Tagesziel oder sonst etwas zu denken. Sand, Muscheln, Felsen – hätte ich früher gesagt. Doch mittlerweile bekommt der Sand viele Attribute, natürlich auch die Muscheln und die Felsen.
Heute fallen mir Worte ein, wie: „Zufriedenheit, inneres Glück, Gelassenheit, Freiheit, Teil des Ganzen sein, Stimmungen aufsaugen, zuhören, dankbar sein“.
Hier ist der einzig wahre Jakobsweg
Kaum zu glauben, dass nahezu alle Pilger Camino Francés gehen. Zum Küstenweg gibt es kaum Bücher, Filme und Infos. Doch instinktiv habe ich die richtige Entscheidung getroffen. Hier sind alle Elemente dieses Planeten vereinigt. Der Atlantik verwöhnt mich mit einem rauen, aber gut zu wandernden Klima. An der Küste und in den Bergen steigen die Temperaturen selten über 30 Grad. Hitzeetappen sind eher selten. Und jeden Tag gibt es auf ein Neues diese traumhafte und ursprüngliche Natur. Sagenhaft!
Ein Buddhist am Jakobsweg
Jean-Louis hält heute stets einen gehörigen Abstand zu mir. Er faselt irgendwelche Silben vor sich her, teils gesprochen, teils gesungen. Das ist mir schon öfter aufgefallen, doch ich nehme ihn so, wie er ist! Doch heute spreche ich ihn direkt darauf an, was diese „Silbenlieder“ bedeuten, die er vor sich hinsingt.
„Meditation!“ Er will heute einfach meditieren! Doch ich frage weiter. Und dann kommt die große Überraschung: Jean-Louis ist Buddhist. Ein Buddhist am Jakobsweg! Im Gegensatz zu meiner strengen Religion „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben“, verehren Buddhisten eine Vielzahl an Gottheiten.
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Toleranz ist im Buddhismus tief verankert.
All die Zeit hat Jean-Louis mit mir gemeinsam Kirchen besucht, gebetet und ist als Buddhist mit mir den Jakobsweg gegangen. Und nie wäre ich auf die Idee gekommen, er könnte Buddhist sein. Oder doch?
Nachdem mein Französisch immer besser geworden ist, haben wir nun einen schier unermesslichen Gesprächsstoff. Seine Weltanschauungen faszinieren mich.
Schon länger sind mir Kleinigkeiten aufgefallen, die mir „merkwürdig“ oder zumindest rührselig erschienen. So hat Jean-Louis praktisch jede Schnecke auf den Straßen in seine Hand genommen, mit ihr geredet und sie zurück in die Wiese gesetzt.
Und er hat auch irgendwie das „entwendete“ Schaf verehrt, das mit uns lief. Ich habe es also mit einem französischen Buddhisten zu tun, der nun schon zum zweiten Mal den Jakobsweg macht. Und Jean-Louis offenbart mir nun auch, dass er in seiner Heimat selbst ein Hospitaliero ist, ein Herbergsvater also!
Dann merke ich aber, dass ihm meine Fragen zu viel werden. Er ist heute von seiner gestrigen Hammeretappe sehr müde und will für sich sein. Wir verabschieden uns wieder einmal mit einer herzlichen Umarmung. Ich werde heute noch bis Ribadasella gehen, während Jean-Louis schon in Piñeres Halt machen möchte.
Der Zugang zu mir selbst
Es geht wieder einmal allein weiter. Das Loslassen und das Alleinsein macht mir nichts mehr aus. Ich sehe meinen eigenen Weg nun als einen langen „Fluss“, auf dem es einfach immer weitergeht, ohne dass ich mir irgendwelche Sorgen machen müsste. Es „fließt“ alles immerzu dahin und ich sauge jede einzelne Sekunde in mir auf. Ich kann genießen und abschalten. Der Lebensfluss fließt. Natürlich ist er auch in meinem Leben vor dem Jakobsweg geflossen. Nun aber beginne ich ganz deutlich, den Unterschied zu spüren.
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Früher war dieser Fluss etwas, was mich mitgespült hat. Während ich gegen die „Stromschnellen“ gekämpft habe, war keine Zeit, den Moment zu genießen. Jetzt ist dieser Fluss ruhig geworden. Meine „lichten Momente“ sind wie Spiegelungen an der Wasseroberfläche, die ich nun in aller Ruhe beobachten kann. Ich bemerke nun ganz bewusst, wo ich gerade bin und kann mich ganz ruhig dahintreiben lassen. Ich habe Zeit, die Gegenwart zu studieren. Und vielleicht ist das Wandern nun dem Meditieren ganz nahe.
Dieser ausgeglichene Zustand verschafft mir eine prall gefüllte Welt der „Sentimientos“, der Eindrücke und Gefühle. Nichts ist mehr eintönig. Alles ist bunt, schön und jeder einzelne Schritt geht nach vorne, weg von meiner Vergangenheit, hinein in meine eigene Gegenwart.
Ich habe lange gebraucht, um hier anzukommen. Jetzt ist der „Gang“ nicht mehr eintönig, sondern „tief in mir drin“. Jeder Schritt ermöglicht mir einen immer intensiveren Zugang zu mir selbst. Er zeigt mir, wer ich bin! Und er zeigt mir, wie friedlich und entspannt man doch die Welt sehen kann.
Ich denke viel nach über den Buddhismus und meine eigene Religion. Schon merkwürdig, dass der Buddhismus in aller Welt eine Religion ist, nur in Deutschland nicht als anerkannte Religionsgemeinschaft gilt. [14]. In Wikipedia lese ich später, dass nach der buddhistischen Lehre jedes Lebewesen einem endlosen Kreislauf (Samsara) von Geburt und Wiedergeburt unterworfen ist. Deshalb vielleicht auch hat Jean-Louis jede Schnecke gerettet.
Lange Asphaltstraßen folgen nun. Würde ich die heutige Strecke im Detail beschreiben, hätte sicher keiner mehr Lust, diesen Küstenweg zu gehen. Aber Teer ist manchmal eben der Preis für den Urweg, für viel Natur pur und das Abenteuer des Lebens. Ja, ich würde es jederzeit wieder machen und keinen einzigen Schritt je bereuen!
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Ribadasella
Ribadasella ist die nächste traumhafte Station auf meiner „Reise“. Ein fast unbekannter Badeort mit herrlichem Sandstrand und altehrwürdigem Flair. Ohne mein Handy zu benutzen gehe ich allerdings volles Risiko ein. Denn der Reiseführer warnt davor, dass die Herberge praktisch immer belegt sei. Doch was interessieren mich Warnungen? Und was der Reiseführer nicht schreibt ist, wie sensationell die Herberge ist!
Eine renovierte Prunkvilla direkt am exklusivsten Strandabschnitt des Kurortes! Als ich davor stehe, denke ich mir: O.K., sicher voll. Aber wahrlich traumhaft. Und ich denke mir auch: Wäre das ein Hotel, dann würde die Nacht kaum unter 500 Dollar kosten!
Naiv, fröhlich und ohne jegliche Erwartungen betrete ich nun die Prunkvilla. „Momiento, Senior“ ruft mir die nur halb so alte junge Dame entgegen. Bildhübsch und fröhlich. Sie strahlt mich an. „Meerblick, oder Blick auf den Park?“.
Zimmer mit Meerblick
Dann gibt sie mir, ohne meine Antwort abzuwarten, einen Schlüssel für „Meerblick“. Abermals sagt sie „Momiento“, sie möchte mir mein Zimmer schon persönlich zeigen. Gigantisch! Ein sechs Betten Zimmer ganz allein. Vor mir breitet sich die Bucht von Ribadasella aus, das Meer, das Leben!
Cristina zeigt mir die blitzsauberen Duschräume und gibt mir zwei große frische Handtücher. Im Duschraum lächelt sie mich an, schüttelte den Kopf und sagt „Playa – ab an den Strand, danach duschen!“. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
Zum Baden ist es viel zu kalt und zu stürmisch. Aber einfach da zu stehen und dem Spiel der Wellen zuzusehen ist fantastisch!
Nachdem ich noch zwei Postkarten an meine beiden Kinder geschrieben habe, gehe ich zurück auf mein Zimmer. Den Rucksack, der neben meinem Bett liegt, kenne ich doch? Im Bett unter mir sind die Klamotten von Jean-Louis verteilt. Wir sind also doch wieder zu zweit? Von Jean-Louis fehlt zwar jede Spur, aber offensichtlich hat er es heute dann doch noch bis hierher geschafft.
Ich freue mich über das Gepäck von Jean-Louis und bin gespannt, wann ich ihn sehen werde.
Das Merkwürdige an dieser Supervilla: Kein anderer Pilger kommt heute noch an. Außer einer österreichischen Pilgerin, die ein Einzelzimmer bekommt.
Pulpa, Sidre und pure Gastfreundschaft
Cristina empfiehlt mir, über die Brücke des Sella zu gehen, um im östlichen Teil ein Pilgermenü einzunehmen. Und plötzlich steht auch Jean-Louis mit einem breiten Grinsen vor mir. „Oui, lass uns ein Pilgermenü nehmen!“
Wir gehen gemeinsam noch mal los auf die andere Seite des Dörfchens. Beide haben wir richtig Hunger und freuen uns auf was zu essen. Nur keines der Restaurants hat ein Schild mit Pilgermenü. In einer Sidreria (so etwas wie einem Wein- und Speiselokal) haben wir dann einfach nach einem Pilgermenü gefragt. „So etwas haben wir nicht, aber warten sie, ich hole den Chef, bitte bleiben sie hier!“. Und dann kommt nicht der Chef, sondern die Chefin. Mit einem Schmunzeln fragt sie uns, ob wir wirklich echte Pilger sind. Dieser Augenblick dauert eine kleine Ewigkeit und alles, was sich jetzt abspielt, geschieht über Blicke, Gesten und Lächeln.
Sie fragt uns, was denn so ein Pilgermenü anderswo kosten würde. Jean-Louis antwortet recht ehrlich: „Zwischen vier und zehn Euro“.
Die Chefin „Marta“ lacht lauthals los. Was denn nun? Vier Euro oder zehn Euro? Jean-Louis und ich müssen ebenfalls loslachen. „No importa“ sage ich spontan, „egal“. Allein die witzige und charmante Art von Marta wären für mich heute schon locker zehn Euro wert gewesen. Lassen wir uns also überraschen.
Marta hat wohl schon einiges über den Jakobsweg gehört, doch Pilger waren bei ihr noch nie. Und obwohl unsere Kleidung dem Lokal nicht im Geringsten angemessen ist, scheint Marta sich zu freuen, dass sie heute zum ersten Mal zwei waschechte Pilger vor sich hat. Ohne uns weiter zu fragen, gibt es als erstes Sidre serviert, auf akrobatische Art!
Sidre, ein Genuss!
Sidre kann man sich so wie Äppelwoi vorstellen. Wenn der Kellner gut ist (und er ist gut), dann gießt er das schäumende Gebräu aus einem halben Meter Abstand ohne hinzusehen in das Glas. Den Wein hält er hoch über den Schultern und das Glas unter den Knien.
Nach viel Sidre und einer kleinen Vorspeise kommt dann unser Überraschungsmenü. Pulpa, frisch gefangener Tintenfisch in der eigenen Tinte. Das habe ich noch nie in meinem Leben gesehen: Ein Teller mit Reis und Tintenfisch, alles tiefschwarz. Es kostet mich trotz großem Hunger ein wenig Überwindung. Aber nach dem ersten vorsichtigen Probieren offenbart sich ein sensationeller Geschmack. Und unser Nachbartisch – Einheimische, essen gerade mit Genuss das Gleiche.
Auch sie wissen, dass Ribadasella eine Station für Pilger ist und fragen uns nun Löcher in den Bauch. Dafür erklären sie uns alles, was man über die köstliche Speise wissen muss. Und sie erklären uns, wie man Sidre richtig einschenkt, wie man ihn macht und es entsteht so ein richtig heiteres Gespräch mit unseren Tischnachbarn.
Endlich gibt es auch wieder einmal aros con leche, meine Lieblingsnachspeise.
Das Flirten mit der hübschen und liebenswerten Besitzerin hat sich gelohnt. Alles in allem pro Person fünf Euro, einen dicken Schmatz auf die Wange und einem Bon Camino! Da kann ich heute sicher gut träumen!
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