Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO - POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Pobeña – Liendo

Pobeña – Liendo

Tag 8: 40 km, 1.000 Höhenmeter, vom Baskenland nach Kantabrien über Ontón, El Pontarron del Guriezo.

 

Die heutige Etappe wird mich von Pobeña über Castro Urdiales nach El Pontarron del Guriezo und dann noch ungewollt bis nach Liendo führen. 40 Kilometer. Eine Hammeretappe. Jean-Louis hat sich seine Semmel noch schnell hinunter gewürgt und will mitgehen.

Für ihn ist das Petit déjeuner – sein geliebtes Frühstück, die wichtigste Mahlzeit des Tages. Doch er will sich an mich kletten.

Nur einen Steinwurf von der Herberge entfernt, führt gleich eine steile Steintreppe durch dichten Wald hinauf zum Uferweg. Oben angekommen, bietet sich ein traumhafter Ausblick. Rechts hinter mir liegt jetzt die Bucht von El Arenal, auf der gegenüber liegenden Seite drehen sich etliche Windräder auf den vorgelagerten Felsen. Ansonsten ist hier alles unverbaut. Mein Weg führt nach Links. Über ein paar steile Steintreppen mit Geländer geht es weiter.

Noch kann ich die Küste zu meiner Linken nicht sehen. Zunächst geht es auf fast gleicher Höhe ein wenig Trepp auf, Trepp ab bis zum Ende der Bucht.

Noch einmal bietet sich ein letzter Blick zurück auf die leere Bucht von La Arena, die erst in ein paar Stunden zum Leben erwachen wird.

Während mit den nächsten Treppenstufen La Arena verschwindet, tut sich die linke Küstenseite vor mir auf. Am Horizont kann ich das nächste Dorf erahnen. Dazwischen liegen Kilometer weit nur zur Küste hin kantig abfallende Felsen, die auf meiner Höhe immer wieder auch mit dichter Wiese bedeckt sind. Wälder sehe ich nur in der Ferne. Dort zieht sich auch ein Teil der Küstenautobahn als kleiner Streifen nach oben und verschwindet dann gleich wieder hinter einem Hügel. Sonst ist hier nichts.

Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA - LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg

Christian, Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA – LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg

Erholsam und flach am Atlantik entlang

Mein Weg verläuft in etwa 30 Meter Höhe erholsam flach direkt am offenen Meer entlang. Der Jakobsweg ist hier als Naturlehrpfad angelegt. Weit entfernt von mir sehe ich mehrere Landzungen, die ich noch durchwandern werde.

Der Himmel ist leicht bewölkt. Und die Küste am Horizont wird von Sonnenstrahlen, die durch ein Wolkenloch scheinen, eigenartig beleuchtet. Sie erscheint daher viel heller, als die übrige Landschaft.

Zu Jean-Louis trennt mich wieder ein guter halber Kilometer. Wir gehen irgendwie zusammen und doch bewahrt jeder von uns so eine Art Intimsphäre und genießt das Allein sein.

Bestimmt wird sich jetzt gerade auch Jean-Louis fragen, warum die Spanier diesem wunderbaren Panoramaweg eine Asphaltdecke verpassen mussten.

Auf natürlichem Untergrund wäre es wesentlich angenehmer. Und selbst die zwei Radfahrer, die mir hier begegnet sind, hätten einen Weg ohne Teerdecke sicherlich akzeptiert. Immer öfter kommt mir in den Sinn, dass die liebe Europäische Union hier wieder einmal völlig sinnlos Gelder für den „Ausbau“ des Jakobsweges verschleudert haben könnte. Fantasielos investiert in Teer und Bodenplatten aus Beton.

Traumhaft schön

Trotzdem: Diese Etappe ist außergewöhnlich schön und ganz anders, als alles bisher Dagewesene. Mit den Vororten von Bilbao habe ich die letzten Ausläufer der Pyrenäen weitgehend verlassen. Es ist nun deutlich flacher, direkt am Ozean und traumhaft schön.

Für die verwöhnte Stadtbevölkerung Bilbaos gibt es hier sogar ein paar Holzzäune hin zum Meer. Ja, genau so hätten auch die Deutschen einen Weg angelegt. Alles muss begrenzt und narrensicher sein. Und natürlich dürfen Warnhinweise nicht fehlen. Wie in good old Germany üblich, ist auf diesem Abschnitt jeder noch so kleine Baum, jeder Aussichtspunkt und übertrieben gesagt auch jeder Stein beschriftet. Doch im Gegensatz zu Deutschland, schien den Spaniern schon nach wenigen Kilometern einfach die Lust an diesem lächerlichen Unterfangen ausgegangen zu sein. Jetzt ist mein Jakobsweg wieder in Ordnung!

Endlich muss ich meine Augen wieder offen halten, um die nächste gelbe Markierung für den Camino zu finden. Die konzentrierte Schnitzeljagd nach Pfeilen geht wieder los. Und das macht riesengroßen Spaß.

Die Streckenführung ist spektakulär. Die erste Landzunge, die ich heute Morgen gesehen habe, wird nun im Landesinneren durchquert. Noch einmal streift mein Blick zurück zu den La Arena vorgelagerten Windrädern. Sie sind schon klein geworden.

Gut geschützt in einem Fjord liegt das kleine Örtchen Ontón. Irgendwo kurz zuvor habe ich vermutlich mitten im Grünen die Regionalgrenze nach Kantabrien überquert. Ontón teilt sich in zwei Hälften, die links und rechts eines kleinen Wildbaches liegen und durch viele kleine Holzbrückchen malerisch miteinander verbunden sind.

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Pilger auf einer Klippe oberhalb des Atlantiks

Der enteignete Jakobsweg

Die Lebensfreude, die ich getankt habe, benötige ich nun auch dringend für die vor mir liegende Küstenstraße. Sie ist jetzt plötzlich Teil des Jakobsweges.

Ein paar Kilometer verläuft der Camino nun direkt auf der Landstraße. Anders herum gesagt: Die Straße hat sich diesen uralten Teil des Jakobsweges einfach einverleibt. Und die Europäische Union wie zur Verhöhnung der Pilger diese übergroßen Jakobswegschilder anbringen lassen.

Hier auf der Straße stoße ich gerade auf Mark und Sabine.

Mark humpelt noch immer. Und mittlerweile zählen drei bis vier Ibuprofen-Schmerztabletten zu seiner Tagesration. Nur die Dröhnung in Verbindung mit Bier scheint ihm den Weg noch zu ermöglichen. Auch Sabine tötet sich ihre Gelenkschmerzen seit Tagen mit Schmerztabletten ab.

Jean-Louis ist plötzlich auch wieder da und grüßt Mark laut von hinten mit „Bonjouuuur Ibüprüfenö“

Jean-Louis kommt mir jetzt wie gerufen. Wir lassen die anderen ziehen und gehen gemächlich die Straße bergauf. Der Asphalt geht uns ebenso auf das Gemüt wie die beiden anderen.

Obwohl mein Französisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich freigelegt ist, amüsieren wir uns über die beiden chemisch von ihrem „ich“ getrennten Pilger. Das müsste meine Französischlehrerin aus alten Schulzeiten jetzt hören. So geht französisch. Spätestens dann, wenn man sich über andere lustig machen kann, dann weiß man, dass die Sprache gar nicht so schlecht funktioniert, wie sie einem in der Schule glauben machen wollten. Kaum gespottet und weg sind die beiden.

Ab in die Fall-Linie!

Jean-Louis und ich fühlen uns plötzlich wie direkt miteinander verdrahtet. Vom höchsten Punkt der Landstraße sehen wir, wie sich diese in vielen unübersichtlichen Serpentinen nach unten schlängelt. Irgendwo da unten müssen Mark und Sabine jetzt stecken.

Jean-Louis und mich packt blitzartig die gleiche Idee. Es überkommt uns wie kindischer Übermut. „Qu’est ce que tu pense? – Was denkst du?“, fragt mich Jean-Louis mit einem breiten Grinsen. Ich antworte ihm mit einem überzeugten „siiiii“, was natürlich nicht französisch ist. Aber auch ganz ohne reden merkt man es einfach, wenn der andere genau in diesem Moment die gleiche Idee hat!

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Grandiose Klippen am Atlantik/ Jakobsweg

„Denen zeigen wir es!“

Ohne weitere sprachliche Feinabstimmung schwingen Jean-Louis und ich uns zeitgleich mit dem Schlachtruf „Ola“ über die doppelten Leitplanken, um uns direkt in die Falllinie zu begeben. Was für ein irres Gefühl! Wegprasselnde Steine. Volles Tempo, Tunnelblick geradeaus. Im Karacho nach unten.

In Sekundenschnelle hat sich so etwas wie der totale Flow eingestellt. Ein Zustand, der in Zeitlupe abläuft und in dem alles wie in Trance geschieht.

Meine alten Reflexe aus der Kindheit sind schlagartig zugegen.

Ich bin aufgewachsen in Prien am Chiemsee und meine Eltern waren ständig mit mir und meinem Bruder Andy unterwegs in den bayrischen Alpen. Das gemeinsame herunter Rennen in Karfeldern, kurz gesagt einem Schotterfeld, gehörte immer zu den allergrößten Freuden jeder Bergtour. Und das habe ich anscheinend noch immer im Blut.

Jean-Louis kommt aus der Haute-Savoie, die im Südosten von der Montblanc-Gruppe beherrscht wird. Offenbar hat er die gleichen Reflexe parat. Zudem ist er Gleitschirmflieger und kennt den Spurt in den Abgrund nur zu gut. Oh yes, we can!

Unter uns prasselt das Geröll und durch die Adern rasen Glückshormone.

Solche Steilflanken kann man gar nicht langsam oder ängstlich mit schräg gestellten Füßen überwinden. Dann würde man sich sofort die Knöchel brechen und alle Sehnen reißen. Die Falllinie funktioniert nur dann, wenn man sich samt Gepäck beherzt nach vorne legt.

Füße gerade aus. Mit Vollgas ab in die Fall-Linie. So hat man immer genug Tempo, um beim kleinsten Anzeichen eines Umknickens den Schwung dafür zu nutzen, in die Luft zu springen, anstatt sich die Bänder zu reißen. Hier können sich die Füße quasi neu sortieren und haben beim nächsten Bodenkontakt eine zweite Chance. Klappt der nächste Schritt wieder nicht, heißt es eben: Erneut in die Luft. Und wenn es dann immer noch nicht gut gehen sollte: Keinesfalls bremsen. Lieber ein paar Rollen vorwärts riskieren!

Hätte ich darüber nachgedacht, dass ich ja nur (feste) Sandalen trage, wäre ich nie im Leben losgerannt. Aber irgendwie scheint mir meine „Regenwolke“ zu fehlen, die mich normalerweise zur Vernunft gebracht hätte. Aja, Vernunft. Mit ihr wäre ich nie zum Jakobsweg gekommen.

Mit jedem Aufsetzen unserer Füße stoßen wir eine kleine Steinlawine vor uns her. Übermut tut selten gut? Schwachsinn. Übermut ist ein herrliches Gefühl, das ich viel öfter wieder haben sollte!

Übermut tut einfach gut!

 

In der Fall-Linie rennen, das kann und darf ich natürlich keinem Pilger wirklich empfehlen. Viel zu groß ist die Gefahr, dass der Jakobsweg hier unverhofft enden könnte. Dennoch machte es unheimlichen Spaß und es ging auch gut. Das übliche „Was-wäre-wenn- Denken“ weicht am Jakobsweg nun immer öfter dem „ist-mir-egal-Beschluss“. Und dieser Beschluss verhindert nicht nur weitere Grübeleien: Er befördert mich unmittelbar in die Gegenwart, in den herrlichen Augenblick des Geschehens. Und er lässt es zu, mich wieder so zu spüren, wie ich bin, oder einmal war.

Gute Zweihundert Höhenmeter – und das ist gar nicht so wenig, haben wir mit unserem Stone-Run vernichtet. Ein Physiker hätte wohl trocken gesagt: Lageenergie hat sich in reine Bewegungsenergie verwandelt.

Pure Lebensfreude

Darüber hinaus hatte sie sich auch in pure Lebensenergie umgewandelt. Was werden Mark und Sabine sich denken, wenn sie uns um die nächste Kurve kommend hier unten entdecken werden? Sie kommen aber gerade nicht um die Kurve und wir gehen frohen Mutes weiter bergab in Richtung Castro Urdiales. Schon von weitem sehe ich die beeindruckende Festung Santa Ana. Zunächst geht es abwärts bis auf Meereshöhe.

Durch dichtes Latschengehölz führt ein kleiner Trampelpfad hinab zu der vorgelagerten und recht einsamen Bucht Playa de Dicido, dem „Dezemberstrand“. Hier kann man im Sommer bestimmt herrlich baden gehen.

Noch einmal geht es steil hinauf zu einer Anhöhe, die uns jetzt noch von den Vororten von Castro Urdiales trennt. Auch hier folgen wir einem verwegenen Trampelpfad mitten im Grünen.

In Castro Urdiales stoßen wir dann auf die Strandpromenade. Hier nehme ich den direkten Weg über den Strand, während Jean-Louis lieber festen Boden unter sich hat.

Das verspielte Hafenstädtchen mit gut 30.000 Einwohnern und noch einmal doppelt so vielen Urlaubern ist einfach nur schön.

Jean-Louis und ich schießen ein paar Fotos an der Hafenmole. Hier hat ein Fischer sein rotes Netz zum Trocknen ausgebreitet. Wie überall in der Welt, liegt auch in Castro Urdiales die Kirche Santa Maria am schönsten Aussichtspunkt. Am Ende der Stadt ist sie von weither sichtbar. Sie wurde erhaben wie ein Leuchtturm auf eine Klippe gebaut.

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Kurze Hose, obwohl es regnet

Als erstes in die Kirche

Respektvoll nehmen wir unser Gepäck ab. Ich schäme mich ein wenig für die kurze Hose, hoffe aber, dass die Kirchendiener ein Nachsehen mit einem Pilger haben werden. Und genau so kommt es auch. Ein junger Gottesmann namens Diego bittet mich zu sich in die Sakristei um mir einen Stempel in meinen Pilgerausweis zu drücken. Es ist der schönste Stempel, den ich bisher in meinem Pilgerausweis, dem Credenzial habe.

Meine kurze Hose stört ihn ebenso wenig, wie mein Rucksack, den ich in der Kirche vor mir mit meinen Händen trage.

Dann führt mich Diego durch das dunkle Kirchenschiff. Mit flammender Begeisterung erklärte er mir die zehn Stationen Jesu Christu. Der Kreuzweg, so bezeichnet man den letzten Leidensweg Jesus Christus zur Kreuzigung, ist wie immer äußerst düster und grausam dargestellt. Im ersten Bild wird Jesus zum Tode verurteilt. „Pontius Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt? Da schrien sie alle: Ans Kreuz mit ihm!“ [9]

Danach nimmt Jesus das Kreuz auf seine Schultern. Und er fällt dreimal unter der Last des Kreuzes zusammen. Schließlich wird er seiner Kleider beraubt und gekreuzigt. INRI, das sind die Anfangsbuchstaben für den spöttischen Namen Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum, Jesus von Nazaret, König der Juden.

Die Bilder verraten nichts über den weiteren Weg in den Himmel und ich frage mich, warum stellt man da nichts Positiveres dar? Wenn ich selbst der Maler oder der Auftraggeber gewesen wäre, dann hätte ich noch ein paar Stationen angefügt, die auch ein bisschen Hoffnung wecken und zeigen, dass nichts im Leben umsonst ist!

Nach dem privat geführten Kreuzweg nehme ich wie immer in einer der hintersten rechten Bänke Platz. Doch auch dieses Mal traue ich mich wieder ein paar Reihen weiter nach vorne. Ich knie mich nieder und versinke in meinen Gedanken. Ist meine Pilgerreise eine religiöse Reise? Hat sie einen spirituellen Sinn? Bin ich auf der Suche nach Gott? Werde ich Antworten und Einsichten bekommen?

Ich weiß es nicht. Aber ich lasse mich darauf ein und möchte herausfinden, was der Weg mir bringen wird. Allein in einer dunklen, Ehrfurcht einflößenden Kirche zu sein, ist so oder so schon ein bewegender Moment.

In einem Gemäuer links des Ausgangs legen Pilger verschiedene persönliche Dinge ab, die hier verbleiben und den Zugang zu einer spirituellen Welt eröffnen sollen. Auch ich trenne jetzt mich von einem geliebten Gegenstand, den ich sehr vorsichtig durch die geschmiedeten Gitterstäbe hindurch auf seinen vorgesehenen Platz lege. Was immer mir dieses Ritual bringen würde, ich tue es einfach.

Meine Pupillen benötigen erst einige Sekunden, um sich wieder an das grelle Licht im Freien zu gewöhnen. Vor mir steht ein professioneller Bettler, der ganz im Gegensatz zu mir mit Markenkleidung und einer teuren Ray Ben Sonnenbrille bekleidet ist. Recht aggressiv will er von mir auf die Mitleidstour etwas haben.

Ich sage zu ihm auf Spanisch: „Erzähle mir etwas von dir und deinem Schicksal“. Als Antwort kommt prompt ein englisches „Fuck You“. Jean-Louis, der gerade ebenfalls aus der Kirche heraustritt, erwidert sein Fuck You, indem er ihm liebevoll einen Arm auf die Schulter legt und ihm einen „bon camino, mon ami“ wünscht. Nun ist er böse verstummt.

Ehrlich gesagt, möchte ich mich jetzt unbedingt weltlicheren Dingen zuwenden, denn ich habe einen Bärenhunger. Es ist Sonntagmittag.

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Eine Paella am Jakobsweg

Paella – wer sich’s leisten kann!

Wenige Steinstufen von Santa Maria entfernt lassen wir uns dann nieder um etwas zu essen. Und zwar in einem richtiges Speiselokal. Hinein trauen wir uns mit unseren Klamotten natürlich nicht, aber Draußen im Freien ist fast alles frei. Dem Kellner ist es recht so.

Wir sind immer noch übermütig. Weil es Sonntag ist, hat Jean-Louis natürlich eine passende Entschuldigung für das nicht ganz Standesgemäße Essen parat: „Seulement une exception – nur eine Ausnahme“. Ich kann spüren, dass er richtig, wirklich richtig Hunger hat und sich heute, genauso wie ich etwas gönnen möchte. Am Nebentisch verspeist ein englisches Touristenpaar eine Paella und die bestellen wir dann auch.

Allerdings zu zweit und ohne in der Speisekarte nach dem Preis zu sehen. Kann schon nicht so viel kosten, ein wenig Reis mit Zeug drin? Es ist und bleibt dann die erste und auch letzte bestellte Paella am gesamten Jakobsweg. Die Rechnung für einen Teller Paella beträgt gesalzene 22(!) Euro. Und wir werden nicht einmal richtig satt. Jean-Louis möchte nun die nächsten Tage drastisch sparen, um sein Budget nicht zu sprengen.

Sitzfleisch haben wir nicht mehr. Und der Kellner, der sein Geschäft schon gemacht hat, bietet uns auch keinen Kaffee mehr an. Ich schätze, er lässt uns gerne weiter ziehen.

Schon 1.500 Kilometer auf den Beinen!

Beim Weitergehen erzählt mir dann Jean-Louis wenig über seinen Camino. Zum ersten Mal. Jean-Louis ist schon in Chambery, seiner Heimatgemeinde in Frankreich gestartet. Er hat bereits 1.500 Kilometer zu Fuß hinter sich. Über die Gründe, die ihn zum Camino geführt haben, will er mit mir nicht sprechen. Noch nicht?

Kurz außerhalb Castro Urdiales muss ich auf Jean-Louis warten. Er ist nach dem Essen deutlich langsamer geworden. Als er mir auf den grasgrünen Felsenklippen entgegen stapft, habe ich die Idee, diese Szene irgendwann zu Malen.

Jean-Louis in der Bildmitte, unter seinen Füßen ein schmaler Trampelpfad, umsäumt von trockenen Gräsern. Hinter ihm liegt das ruhig gewordene stahlblaue Meer. Farben, so satt, wie man sie nur nach viel Regen sehen kann. Jeder Schritt, jede Bewegung prägt sich tief ein. Ich studiere auch intensiv den Hintergrund. Der ist mittlerweile unendlich weit weg. Die Windräder von La Arena kann man im leichten Dunst in der Ferne nur noch erahnen. Richtig sehen kann man sie nicht mehr. Ich versuche mir, die Farben ganz genau einzuprägen. Und ich beobachte aufmerksam den Schatten, der Jean-Louis mit jedem Schritt vorauseilt. Eine schnelle Strich-Skizze in meinem Tagebuch wird diese Impressionen hoffentlich bewahren. Ich möchte irgendwann aus der Skizze ein Ölgemälde malen.

Mark und Sabine haben zwischenzeitlich sicher den unbarmherzigen Abstecher über die Küstenstraße genommen. Es geht ihnen nicht um die Seele des Weges. Sie sind getrieben vom Navi und besessen von der kürzesten Verbindung.

Eine absurde Kulisse bietet sich nun, weil der Jakobsweg genau jetzt auf der seelenlosen Küstenstraße landet. Angebunden an einem Jakobsweg-Schild für Autofahrer (Warnung vor Pilgern) wartet ein Esel auf den letzten Apfel, den Jean-Louis bei sich hat. Der Esel hinter der Leitplanke bettelt nicht. Er ist einfach da und scheint nun jeden Bissen zu genießen.

Die weitere Streckenführung erinnert mich an einen heißen amerikanischen Highway, der sich schnurgerade über alle Höhen und Tiefen hinweg seinen Weg mit Sprengstoff gebahnt hat. Asphalt ist der größte Feind eines Pilgers. Die Luft über dem Belag flimmert bis in die innersten Gehirnregionen hinein. Dieses Gefühl ist zermürbend. Man bekommt den Eindruck, nicht vorwärts zu kommen. Die Autos spiegeln sich in der Ferne noch in der heißen Luft, bevor sie das Flirren dort hinten vollständig verschluckt. Wie weit mag das weg sein? Mit den Schlieren der erhitzten Luftschicht bekomme ich einen Vorgeschmack für die Weite, die vor mir liegt. Unweigerlich setze ich mich mit Schnecken und Ameisen gleich, wenn Autos vorbeibrausen.

Trotzdem denke ich mir, bestimmt bin ich zu Fuß schon weiter, als viele normale Autofahrer heute zurücklegen, wenn sie an mir vorbeibrausen. Gute Zweihundert Kilometer haben mich meine Füße bisher schon getragen. 651 Kilometer sind es noch nach Santiago de Compostela. Ohne Umwege.

Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA - LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg

Blick in die Pilgerherberge: Stockbetten mit Rucksäcken und Ausrüstung

Zähle nicht rückwärts. Lebe!

Erstmals bekomme ich nun ein Gefühl für die Strecke und für die Zeitverhältnisse. Aber ich werde nicht anfangen, rückwärts zu zählen. Das ist doch idiotisch.

Der Unsinn, Tage rückwärts zu zählen ist mir erstmals in der Bundeswehr klar geworden. Doch es beginnt schon viel früher im Leben. Wie viele Jahre noch bis zum 10. Geburtstag. Gut: Diese Frage ist kindlich und auch noch völlig normal. Wie viele Jahre noch, bis ich endlich aus der Schule bin? Nun, hier beginnt es wohl schon, dumm zu werden. Denn was kommt nach der Schule? Wird dann alles besser im Leben? Und was bringt es, wenn man danach wieder zu zählen beginnt – rückwärts, wohlgemerkt? Noch 50 Tage bei der Bundeswehr? Mit dem Fixieren auf den Countdown verliert man das Wertvollste, was man hat: Den Augenblick! Man richtet sich nicht mehr ein, im Hier und Jetzt. Man wartet vielmehr auf das Verfallsdatum!

Welcher Countdown kommt als nächstes? Richtig: Wie viele Jahre noch bis zur Rente? Toll, und dann? Wie lautet die Frage dann?

Wie viele Tage habe ich rückwärts gezählt, anstatt sie gelebt zu haben?

Kilometer rückwärts zu zählen erscheint mir ebenso abwegig. Ich gehe vor mich hin. Punkt. Mal sehen, wo ich heute ankomme.

Die falsche Seite der Straße

Der linke, mit einer durchgehenden weißen Linie markierte Streifen der Schnellstraße soll uns nach den Plänen der Regierung den Jakobsweg anbiedern. Doch das interessiert nicht die Autofahrer. In Spanien war es bis vor Kurzem nicht üblich, dass Fußgänger in die entgegengesetzte Richtung laufen. Das taten nur deutsche Besserwisser. Einige Fernfahrer versuchen daher, uns noch heute „eines Besseren zu belehren“, in dem sie sich ganz offensichtlich einen Spaß daraus machen, sehr knapp an uns vorbei zu fahren und zu hupen. Jean-Louis hat mit seinem Stock schon einige LKWs gestreift, die allerdings sind davon völlig unbeeindruckt. Dann pfeifen wir auf die linke Seite und gehen wieder rechts. Egal wer oder was sich von hinten nähert. Wir haben wieder Ruhe.

Die Hitze des pechschwarzen Asphaltbelages macht mich wütend. Es ist so ein Gefühl, wie wenn ich mit meinem mp3-Player und Technobeats unterwegs wäre. Meine Sandalen sind auf diesem unmenschlichen Belag keine guten Begleiter. Jeder verdammte Schritt dringt unmittelbar vor zu meinem Schmerzzentrum. Ich fange an, den Weg zu verfluchen. Schon lange spricht Jean-Louis kein einziges Wort mehr mit mir. Er ist völlig verstummt. Sein Gesicht zeigt keine Miene. In sich gekehrt scheint er irgendwelche Mantras vor sich hin zu murmeln. Wir gehen wieder auf Abstand. Besser so, denn der Asphalt saugt extrem an unseren Kräften und an der Psyche. Und streiten möchte ich mit Jean-Louis sicher nicht. Hier ist jeder allein. Und jeder muss für sich selbst damit fertig werden. Auch so eine Art Prüfung, die mir dieser eintönige Abschnitt auf der Straße beschert.

Der Blick auf ein Ziel ist… unsinnig!

Ich merke, dass ich plötzlich so verbittert bin, wie sonst in der Arbeit. Seit einer halben Stunde fixiere ich das Ende des Horizontes, wo ich einen Mast sehe. Er kommt nicht näher. Aber ich lasse ihn mit meinen Blicken nicht mehr aus den Augen. Ich starre ihn verbissen an. Dieses hartnäckige und trotzige Fixieren eines Punktes verahnt mir allerdings eine innere Kraft, die mich weiter und weiter voranbringt. Angriff! Je länger ich den Punkt anstarre, umso mehr verengt sich mein Gesichtsfeld und die fortwährend gleichen Schritte versetzen mich wieder in einen Trance-Zustand. Ich spüre, wie meine Hände zu Fäusten geballt sind und der Schweiß unablässig aus meinem Gesicht perlt. Es ist so, wie in der Sauna, wenn man zuvor gewettet hat, es zwanzig Minuten auf der obersten Bank auszuhalten. Die Sanduhr würde wohl eine gefühlte Ewigkeit rieseln und dann ist erst einmal Halbzeit. Umdrehen und weiter geht es.

Nein, ich möchte nicht ablassen von dem Masten da vorne. Ich möchte diesen Punkt möglichst schnell erreichen und hinter mir lassen. Ungewollt werde ich schneller. Auch Jean-Louis, der jetzt weit hinter mir ist, wird schneller. Der Abstand bleibt gleich.

Alle paar Hundert Meter stehen hier überlebensgroße Jakobsweg-Warnschilder an der Straße. Alles ganz im Look einer übermächtigen „europäischen Straßenverkehrsordnung“. Wie hoch mögen die Subventionen aus Europa sein? Leider steht das Preisschild dieses Mal nicht daneben. Ein kleineres Projekt also. Jean-Louis macht sich jetzt lustig über die Achse „Sarkozy et Merkääl“. C’est fou – Das ist doch alles verrückt“, meint er.

Wie zur Erlösung kommt dann noch vor dem Horizont ein Abschnitt, der uns durch die Natur führt. Leider werde ich also den Masten in der Ferne nicht erreichen. Es kommt eben immer anders! Gott sei Dank! Dafür werde ich schlagartig wieder fröhlich. In einem kleinen Dörfchen setzen wir uns beide auf eine Steinbank an der Nordseite einer kleinen Kirche. Hier gibt es einen erfrischenden Brunnen mit Trinkwasser.

Das Dörfchen, dessen Namen ich nicht kenne ist die Erholung pur. Kein einziges Auto sehe ich hier. In einiger Entfernung laufen zwei Kinder auf einer Wiese umher. Und neben der Steinbank geht im Vorderhaus der Kirche die Türe auf. Es ist der Dorfpfarrer. Kurz winkt er uns zu, so als ob er uns jetzt gerade gesegnet hat und dann steigt er in einen alten Citroen und braust davon. Auch wir brechen wieder auf.

Bis nach El Pontarron de Guriezo mögen es vielleicht noch 6 Kilometer sein, aber heute erscheint mir jeder verdammte Kilometer wie ein Lichtjahr. Schon nach kurzer Zeit stoßen wir wieder auf die Schnellstraße, die sich ab jetzt wieder Jakobsweg nennt. Und sofort gehen wir beide wieder auf Abstand. Jeder für sich.

Das letzte Stück nach Guriezo ist landschaftlich hinreißend – für einen Autofahrer! Für einen Pilger ist die Strecke einfach nur „hart“. Auf meiner Rechten begleitet mich schon seit zwei Kilometern ein traumhaft schöner, aber verlassener Strand. Ein paar Angler sind hier und hin und wieder steht ein Campingbus herum. Obwohl ich gerade mitten auf der Nationalstraße N634 bin, kommt kaum ein Auto mehr vorbei. Der Verkehr spielt sich nahezu ausschließlich hoch oben auf der neuen E-70 ab. Danke EU, wäre nicht nötig gewesen.

Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA - LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg

Küstenlandschaft auf der Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA – LIENDO

Im Mündungsgebiet des Aguera Ibaia

Langsam komme ich dem Mündungsgebiet des Aguera Ibaia entgegen. Weitläufige ockerfarbene Sandflächen wechseln sich mit fließendem Wasser ab. So wie ein Stück Nordseeküste, eingesäumt in eine tiefgrüne Fels- und Hügellandschaft.

Wäre ich nicht zu erschöpft, dann würde ich hier sicher ein Dutzend Fotos machen.

Am Spätnachmittag laufen wir in gebührlichem Abstand ziemlich geplättet in das schöne Dörfchen El Pontarrón del Guriezo ein. Hier spannt sich hoch über dem Dorf eine neue gigantische Autobahnbrücke über das Tal.

Etwas landeinwärts liegt die Herberge. Das Grundstück grenzt direkt an den romantischen Flusslauf des Aguera Ibaia. Durch ein altes Gartentor gelangt man über ein paar in den Weg hängende Brennnesseln zum Ufer. Trotz Schlamm kann ich mir sehr gut vorstellen, wie schön es hier trocken sein mag. Jetzt nach den Regenfällen gibt jeder Schritt dort hinein ein lustiges Schlürfen von sich.

Wenn das Shampoo nicht mehr abgeht…

Leider ist die Herberge seit den letzten Tagen sehr feucht und muffig. In trockenem Zustand ist sie bestimmt durchaus empfehlenswert. Aber heute sind die Matratzen mit der Feuchtigkeit unserer Vorgänger vollgesaugt. Und die Dusche tröpfelt nur kalt vor sich hin. Ich tue gut daran, auf eine Dusche zu verzichten. Jean-Louis hat nämlich gerade seine liebe Mühe, das eifrig aufgetragene Shampoo wieder los zu werden. Und das, was ich da akustisch gerade auf Französisch miterlebe, ist zugegebenermaßen sehr erheiternd. Die Tenside scheinen sich mit den kalten Wassertropfen nicht mehr von seiner Haut lösen zu wollen. Ich muss lachen.

Voller Schadenfreude, lege ich mich ganz gemütlich im schönen Vorgarten in die Sonne. Nun kommen auch Mark und Sabine an. Wie sie das geschafft haben – keine Ahnung. Wie immer haben sie diese übertriebene Hurrastimmung. Oje, und dann taucht auch noch das sonderbare Ehepaar aus Neuseeland auf. Gibt es die auch noch? Beide haben die Küsten-Eisenbahn bis hierher genommen. Weil Sie vom anderen Ende der Welt kommen, stelle ich mir gerade vor, wie sie auf dem Kopf stehend ankommen. Bei der Vorstellung an den Kopfstand und eine umgekehrte Gravitation entkommt mir ein lautes Lachen. Meine Assoziationen behalte ich aber für mich und so fassen die beiden Neuseeländer mein Lachen als herzliche Begrüßung auf. Passt!

Kaum angekommen, trotteln – äh trotten sie noch ins Dorf, um in der Bar El Pontarron (mehr ist dort nicht los) das Fußballspiel Neuseeland gegen Italien anzusehen. Das 1:1 muss die beiden geizigen Neuseeländer angestachelt haben. So sehr, dass sie gleich mit mehreren Flaschen Wein in die Herberge zurückkehren. Feiern war wohl geplant. Daraus wird aber nichts.

Auge um Auge, Stein um Stein. Herrlich!

Alejandro, ein gedrungener und muskulöser spanischer Extrempilger, meint, ohne dass es die Neuseeländer hören können: Lasst uns alle noch einmal aufbrechen. Oder wollt ihr mit den Neuseeländern feiern? Obwohl er es auf Spanisch sagt, verstehe ich sogar seinen Zynismus zwischen den Zeilen. Wau, was für eine sprachliche Genugtuung. Endlich können wir ihnen die ganze Geizigkeit heimzahlen. Er meint: Die nächste Herberge in Liendo soll schön und neu sein. Und sicher wäre sie auch trocken.

Ich nehme ihm jedes Wort ab. Alejandro trägt ein blaues Muskelshirt vom Inkatrail. Am Rucksack prangen die passenden Embleme vom Rio Urubamba und dem Machu Picchu in Peru. „Allechandro“ sieht aus wie ein tätowierter Elitesoldat. Klein, glatzköpfig, mit grimmigem Schnauzbart. Aber sehr sympathisch.

Jean-Louis schläft um diese Zeit schon tief und fest, obwohl lustigerweise die einzigen Sonnenstrahlen im Schlafraum exakt in seine Augen scheinen. Scheiß drauf! Ich wecke ihn jetzt auf. Schlaftrunken und ein wenig missmutig sieht er mich an, und fragt mich auf Spanisch „Qué pasa? Was ist los?“.

Allez, allez! Wir gehen noch einmal los! Wie unter Befehl packt Jean-Louis sofort seine sieben Sachen zusammen. So wie alle anderen in der Herberge. Die Gruppendynamik löst eine wahre Euphorie aus. Die sicheren Schlafplätze jetzt wieder aufgeben? Eine weitere Etappe wagen?

Die Kommandoaktion „Liendo“ beginnt. Vorwärts, Marsch, Marsch!

Vergessen sind die müden Füße. Wer einmal ruht, der geht nicht mehr? Quatsch!

All meine Bedenken gehen in der überschwänglichen Aufbruchsstimmung völlig unter. Jippie, es geht weiter!

Die nichtsahnenden Neuseeländer warten mit einem fantasievoll gedeckten Steintisch und viel Wein in stolzer Siegerpose im Vorgarten auf uns. Nun stürmen wir alle gleichzeitig wie eine Sondereinheit mit geschultertem Gepäck aus der Herberge heraus. „Ola, una nueva etapa! Felicitación, bon Camino!“

Dem Ehepaar bleibt der Wein schier in der Kehle stecken. Offensichtlich hat bereits jeder von uns mit ihnen schon unangenehme Erfahrungen gemacht. Die furchtbare Knauserei rächt sich jetzt. Dass sich alles gegen sie verschworen hat, sprengt sicherlich ihre Vorstellungskraft. Natürlich ist es Mark, der beim Verlassen der Herberge noch einen sarkastischen Schlachtruf absetzt: „Nueva Zelanda-aaaaaaa“. Der Nachhall auf das andere Ende der Welt erheitert mich noch eine ganze Weile beim Aufstieg von Null auf Hundertvierzig.

 

Inkatrail führt uns nach Liendo

In einer traumhaften Spätnachmittagstimmung marschieren wir im militärischen Gleichschritt synchron hinter „Inkatrail“ her, wie wir ihn von jetzt an nennen. Er ist höchstens einen Meter und sechzig, mit der Figur eines Bodybuilders. Sein Gepäck gleicht einer Survival-Ausrüstung für zwei Monate Regenwald. So barbarisch sein Äußeres auch wirkt: Er ist eine sehr einfühlsame und sensible Seele und ich kann mich gut mit ihm unterhalten. Inkatrail, Mark, Sabine, Jean-Louis und ich sind nun für diese kurze Zeit ein Team. Wir wissen, dass sich die Wege bald wieder trennen werden, doch jetzt spornt uns der gemeinsame Streich richtig an.

Nach einem steilen Anstieg kommen wir dann über eine Autobahnbrücke und sehen für einen kurzen Moment in die Tiefe. Dann geht es mit riesen Schritten weiter nach Liendo.

Wie aus dem Reservetank scheinen unsere Kräfte zu sprudeln. Kurz vor Liendo empfängt uns ein witziges Verkehrsschild:

Prohibida La Venta Ambulante Con Megafonías!“

Schaltet gefälligst eure Sirenen ab! Ihr befindet euch im verträumten Liendo. Macht keinen Lärm, wenn ihr da durchsaust! Wir sind trés amusée, denn was sollte hier schon groß los sein? Natürlich ist es wieder Mark, der uns von hinten her eine Sirene vorheult „O-U-Ihhhhhh“. Ergänzt durch ein „Pobre Nueva Zelanda, armes Neuseeland“.

Lustige Schatten in Monstergröße

Die letzten Meter nach Liendo sind große Klasse. Im allerletzten Licht der gerade untergehenden Sonne, sind unsere eigenen Schatten auf Monstergröße angewachsen.

Die Sonne taucht Liendo extra für uns noch einmal in ein helles orangefarbenes Gegenlicht und zaubert uns eine dunstige Idylle vor die Augen. Wir gehen hinter der Kirche entlang zur Herberge. Und als wir hinter der Kirche wieder hervorkommen, ist die Sonne auch schon in den Bergen verschwunden. Liendo liegt schlagartig im Schatten. Wir haben unser Tagesziel erreicht! Wie immer belohnt mich der Zufall. Oder ist es doch mehr?

Die neue Herberge ist bezaubernd. Ein liebevoll hergerichtetes Schulhäuslein. Stilvoll und mit einem ganz eigenen Charme.

„Inkatrail“ erzählt abfällig von den extremen Massenherbergen Camino Francés. Ja, auch er als Spanier hat Kerkeling gelesen. Er hat diesen Jakobsweg letztes Jahr gemacht. Allerdings rückwärts, wie sich herausstellt.

Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA - LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg

Jakobsweg Etappe 08: POBEÑA – LIENDO | Jakobsweg, Küstenweg, Die Albuerge de Peregrinos Saturnino Candina Liendo

Camino de la Costa – Jakobsweg an der Küste Emblem/ Logo, rund

 

Unter Pilgerfreunden

In Liendo sind wir nun unter Pilgerfreunden. Es gibt ein Wiedersehen mit der Italienerin Daniela. Sie hat ebenfalls einen Abstecher mit der Eisenbahn gemacht. Und ein Wiedersehen mit den Spaniern Manu und Jesus. Natürlich nicht der Jesus. Aber er sieht wirklich genau so aus. Abgemagert, schulterlange zottige dunkle Haare, einen Al-Kaida-Bart. Stets nur in Badeschlappen. Und oben ohne laufend. Eigentlich fehlt ihm nur noch ein schweres Holzkreuz.

„Jesus“ ist mir schon einmal begegnet, als er Ingrid und mich in den Bergen vor Lezama überholte. Eigentlich hätte ich ihn längst viel weiter vermutet. Aber man sieht sich immer wieder, am Jakobsweg.

„Italien und Spanien“ bekochen uns heute. Zuvor haben sie von jedem vier Euro eingesammelt. Der Gegenwert ist nun ein üppiges mediterranes Küchenerlebnis. Essen und Wein im Überfluss. Manu, ein sympathischer Spanier kommt mir nach dem Wein bekannt vor. Und er denkt ebenfalls, mich irgendwo schon einmal gesehen zu haben.

Jean-Louis ist langsam erschöpft. Das liegt sicher auch daran, dass er als Franzose nie eine andere Fremdsprache erlernt hatte. Ich unterhalte mich mit ihm auf Französisch, mit Daniela auf Italienisch, mit Sabine auf Englisch, obwohl sie ja eine Deutsche ist. Aber so können auch die anderen etwas von uns verstehen. Überhaupt brauche ich nach den Tagen mit Ingrid mein Deutsch nicht mehr. In der gemütlichen Atmosphäre beginnt es, spät zu werden. Mittlerweile ist es auch schon fast Mitternacht. Zu dieser Zeit schläft ein Pilger normalerweise schon seit ein paar Stunden. Gut, dass wir beide noch die Kurve gekratzt haben. Es war höchste Zeit, dem Wein nun zu entsagen und zu schlafen. Allerdings war es noch laut in der heutigen Nacht.

 


    Christian Seebauer am Jakobsweg

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    Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste Pobeña – Liendo Pobeña – Liendo Tag 8: 40 km, 1.000 Höhenmeter, vom Baskenland nach Kantabrien über Ontón, El Pontarron del Guriezo. Die heutige Etappe wird mich von Pobeña über Castro Urdiales nach El Pontarron del Guriezo und dann noch ungewollt bis nach Liendo führen. 40 Kilometer. Eine Hammeretappe. Jean-Louis hat sich seine Semmel noch schnell hinunter gewürgt und will mitgehen. Für ihn ist das Petit déjeuner – sein geliebtes Frühstück, die wichtigste Mahlzeit des Tages. Doch er will sich an mich kletten. Nur einen Steinwurf von der Herberge entfernt, führt gleich eine steile Steintreppe durch dichten Wald hinauf zum Uferweg. Oben angekommen, bietet sich ein traumhafter Ausblick. Rechts hinter mir liegt jetzt die Bucht von El Arenal, auf der gegenüber liegenden Seite drehen sich etliche Windräder auf den vorgelagerten Felsen. Ansonsten ist hier alles unverbaut. Mein Weg führt nach Links. Über ein paar steile Steintreppen mit Geländer geht es weiter. Noch kann ich die Küste zu meiner Linken nicht sehen. Zunächst geht es auf fast gleicher Höhe ein wenig Trepp auf, Trepp ab bis zum Ende der Bucht. Noch einmal bietet sich ein letzter Blick zurück auf die leere Bucht von La Arena, die erst in ein paar Stunden zum Leben erwachen wird. Während mit den nächsten Treppenstufen La Arena verschwindet, tut sich die linke Küstenseite vor mir auf. Am Horizont kann ich das nächste Dorf erahnen. Dazwischen liegen Kilometer weit nur zur Küste hin kantig abfallende Felsen, die auf meiner Höhe immer wieder auch mit dichter Wiese bedeckt sind. Wälder sehe ich nur in der Ferne. Dort zieht sich auch ein Teil der Küstenautobahn als kleiner Streifen nach oben und verschwindet dann gleich wieder hinter einem Hügel. Sonst ist hier nichts. Erholsam und flach am Atlantik entlang Mein Weg verläuft in etwa 30 Meter Höhe erholsam flach direkt am offenen Meer entlang. Der Jakobsweg ist hier als Naturlehrpfad angelegt. Weit entfernt von mir sehe ich mehrere Landzungen, die ich noch durchwandern werde. Der Himmel ist leicht bewölkt. Und die Küste am Horizont wird von Sonnenstrahlen, die durch ein Wolkenloch scheinen, eigenartig beleuchtet. Sie erscheint daher viel heller, als die übrige Landschaft. Zu Jean-Louis trennt mich wieder ein guter halber Kilometer. Wir gehen irgendwie zusammen und doch bewahrt jeder von uns so eine Art Intimsphäre und genießt das Allein sein. Bestimmt wird sich jetzt gerade auch Jean-Louis fragen, warum die Spanier diesem wunderbaren Panoramaweg eine Asphaltdecke verpassen mussten. Auf natürlichem Untergrund wäre es wesentlich angenehmer. Und selbst die zwei Radfahrer, die mir hier begegnet sind, hätten einen Weg ohne Teerdecke sicherlich akzeptiert. Immer öfter kommt mir in den Sinn, dass die liebe Europäische Union hier wieder einmal völlig sinnlos Gelder für den „Ausbau“ des Jakobsweges verschleudert haben könnte. Fantasielos investiert in Teer und Bodenplatten aus Beton. Traumhaft schön Trotzdem: Diese Etappe ist außergewöhnlich schön und ganz anders, als alles bisher Dagewesene. Mit den Vororten von Bilbao habe ich die letzten Ausläufer der Pyrenäen weitgehend verlassen. Es ist nun deutlich flacher, direkt am Ozean und traumhaft schön. Für die verwöhnte Stadtbevölkerung Bilbaos gibt es hier sogar ein paar Holzzäune hin zum Meer. Ja, genau so hätten auch die Deutschen einen Weg angelegt. Alles muss begrenzt und narrensicher sein. Und natürlich dürfen Warnhinweise nicht fehlen. Wie in good old Germany üblich, ist auf diesem Abschnitt jeder noch so kleine Baum, jeder Aussichtspunkt und übertrieben gesagt auch jeder Stein beschriftet. Doch im Gegensatz zu Deutschland, schien den Spaniern schon nach wenigen Kilometern einfach die Lust an diesem lächerlichen Unterfangen ausgegangen zu sein. Jetzt ist mein Jakobsweg wieder in Ordnung! Endlich muss ich meine Augen wieder offen halten, um die nächste gelbe Markierung für den Camino zu finden. Die konzentrierte Schnitzeljagd nach Pfeilen geht wieder los. Und das macht riesengroßen Spaß. Die Streckenführung ist spektakulär. Die erste Landzunge, die ich heute Morgen gesehen habe, wird nun im Landesinneren durchquert. Noch einmal streift mein Blick zurück zu den La Arena vorgelagerten Windrädern. Sie sind schon klein geworden. Gut geschützt in einem Fjord liegt das kleine Örtchen Ontón. Irgendwo kurz zuvor habe ich vermutlich mitten im Grünen die Regionalgrenze nach Kantabrien überquert. Ontón teilt sich in zwei Hälften, die links und rechts eines kleinen Wildbaches liegen und durch viele kleine Holzbrückchen malerisch miteinander verbunden sind. Der enteignete Jakobsweg Die Lebensfreude, die ich getankt habe, benötige ich nun auch dringend für die vor mir liegende Küstenstraße. Sie ist jetzt plötzlich Teil des Jakobsweges. Ein paar Kilometer verläuft der Camino nun direkt auf der Landstraße. Anders herum gesagt: Die Straße hat sich diesen uralten Teil des Jakobsweges einfach einverleibt. Und die Europäische Union wie zur Verhöhnung der Pilger diese übergroßen Jakobswegschilder anbringen lassen. Hier auf der Straße stoße ich gerade auf Mark und Sabine. Mark humpelt noch immer. Und mittlerweile zählen drei bis vier Ibuprofen-Schmerztabletten zu seiner Tagesration. Nur die Dröhnung in Verbindung mit Bier scheint ihm den Weg noch zu ermöglichen. Auch Sabine tötet sich ihre Gelenkschmerzen seit Tagen mit Schmerztabletten ab. Jean-Louis ist plötzlich auch wieder da und grüßt Mark laut von hinten mit „Bonjouuuur Ibüprüfenö“ Jean-Louis kommt mir jetzt wie gerufen. Wir lassen die anderen ziehen und gehen gemächlich die Straße bergauf. Der Asphalt geht uns ebenso auf das Gemüt wie die beiden anderen. Obwohl mein Französisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich freigelegt ist, amüsieren wir uns über die beiden chemisch von ihrem „ich“ getrennten Pilger. Das müsste meine Französischlehrerin aus alten Schulzeiten jetzt hören. So geht französisch. Spätestens dann, wenn man sich über andere lustig machen kann, dann weiß man, dass die Sprache gar nicht so schlecht funktioniert, wie sie einem in der Schule glauben machen wollten. Kaum gespottet und weg sind die beiden. Ab in die Fall-Linie! Jean-Louis und ich fühlen uns plötzlich wie direkt miteinander verdrahtet. Vom höchsten Punkt der Landstraße sehen wir, wie sich diese in vielen unübersichtlichen Serpentinen nach unten schlängelt. Irgendwo da unten müssen Mark und Sabine jetzt stecken. Jean-Louis und mich packt blitzartig die gleiche Idee. Es überkommt uns wie kindischer Übermut. „Qu'est ce que tu pense? – Was denkst du?“, fragt mich Jean-Louis mit einem breiten Grinsen. Ich antworte ihm mit einem überzeugten „siiiii“, was natürlich nicht französisch ist. Aber auch ganz ohne reden merkt man es einfach, wenn der andere genau in diesem Moment die gleiche Idee hat! „Denen zeigen wir es!“ Ohne weitere sprachliche Feinabstimmung schwingen Jean-Louis und ich uns zeitgleich mit dem Schlachtruf „Ola“ über die doppelten Leitplanken, um uns direkt in die Falllinie zu begeben. Was für ein irres Gefühl! Wegprasselnde Steine. Volles Tempo, Tunnelblick geradeaus. Im Karacho nach unten. In Sekundenschnelle hat sich so etwas wie der totale Flow eingestellt. Ein Zustand, der in Zeitlupe abläuft und in dem alles wie in Trance geschieht. Meine alten Reflexe aus der Kindheit sind schlagartig zugegen. Ich bin aufgewachsen in Prien am Chiemsee und meine Eltern waren ständig mit mir und meinem Bruder Andy unterwegs in den bayrischen Alpen. Das gemeinsame herunter Rennen in Karfeldern, kurz gesagt einem Schotterfeld, gehörte immer zu den allergrößten Freuden jeder Bergtour. Und das habe ich anscheinend noch immer im Blut. Jean-Louis kommt aus der Haute-Savoie, die im Südosten von der Montblanc-Gruppe beherrscht wird. Offenbar hat er die gleichen Reflexe parat. Zudem ist er Gleitschirmflieger und kennt den Spurt in den Abgrund nur zu gut. Oh yes, we can! Unter uns prasselt das Geröll und durch die Adern rasen Glückshormone. Solche Steilflanken kann man gar nicht langsam oder ängstlich mit schräg gestellten Füßen überwinden. Dann würde man sich sofort die Knöchel brechen und alle Sehnen reißen. Die Falllinie funktioniert nur dann, wenn man sich samt Gepäck beherzt nach vorne legt. Füße gerade aus. Mit Vollgas ab in die Fall-Linie. So hat man immer genug Tempo, um beim kleinsten Anzeichen eines Umknickens den Schwung dafür zu nutzen, in die Luft zu springen, anstatt sich die Bänder zu reißen. Hier können sich die Füße quasi neu sortieren und haben beim nächsten Bodenkontakt eine zweite Chance. Klappt der nächste Schritt wieder nicht, heißt es eben: Erneut in die Luft. Und wenn es dann immer noch nicht gut gehen sollte: Keinesfalls bremsen. Lieber ein paar Rollen vorwärts riskieren! Hätte ich darüber nachgedacht, dass ich ja nur (feste) Sandalen trage, wäre ich nie im Leben losgerannt. Aber irgendwie scheint mir meine „Regenwolke“ zu fehlen, die mich normalerweise zur Vernunft gebracht hätte. Aja, Vernunft. Mit ihr wäre ich nie zum Jakobsweg gekommen. Mit jedem Aufsetzen unserer Füße stoßen wir eine kleine Steinlawine vor uns her. Übermut tut selten gut? Schwachsinn. Übermut ist ein herrliches Gefühl, das ich viel öfter wieder haben sollte! Übermut tut einfach gut! In der Fall-Linie rennen, das kann und darf ich natürlich keinem Pilger wirklich empfehlen. Viel zu groß ist die Gefahr, dass der Jakobsweg hier unverhofft enden könnte. Dennoch machte es unheimlichen Spaß und es ging auch gut. Das übliche „Was-wäre-wenn- Denken“ weicht am Jakobsweg nun immer öfter dem „ist-mir-egal-Beschluss“. Und dieser Beschluss verhindert nicht nur weitere Grübeleien: Er befördert mich unmittelbar in die Gegenwart, in den herrlichen Augenblick des Geschehens. Und er lässt es zu, mich wieder so zu spüren, wie ich bin, oder einmal war. Gute Zweihundert Höhenmeter – und das ist gar nicht so wenig, haben wir mit unserem Stone-Run vernichtet. Ein Physiker hätte wohl trocken gesagt: Lageenergie hat sich in reine Bewegungsenergie verwandelt. Pure Lebensfreude Darüber hinaus hatte sie sich auch in pure Lebensenergie umgewandelt. Was werden Mark und Sabine sich denken, wenn sie uns um die nächste Kurve kommend hier unten entdecken werden? Sie kommen aber gerade nicht um die Kurve und wir gehen frohen Mutes weiter bergab in Richtung Castro Urdiales. Schon von weitem sehe ich die beeindruckende Festung Santa Ana. Zunächst geht es abwärts bis auf Meereshöhe. Durch dichtes Latschengehölz führt ein kleiner Trampelpfad hinab zu der vorgelagerten und recht einsamen Bucht Playa de Dicido, dem „Dezemberstrand“. Hier kann man im Sommer bestimmt herrlich baden gehen. Noch einmal geht es steil hinauf zu einer Anhöhe, die uns jetzt noch von den Vororten von Castro Urdiales trennt. Auch hier folgen wir einem verwegenen Trampelpfad mitten im Grünen. In Castro Urdiales stoßen wir dann auf die Strandpromenade. Hier nehme ich den direkten Weg über den Strand, während Jean-Louis lieber festen Boden unter sich hat. Das verspielte Hafenstädtchen mit gut 30.000 Einwohnern und noch einmal doppelt so vielen Urlaubern ist einfach nur schön. Jean-Louis und ich schießen ein paar Fotos an der Hafenmole. Hier hat ein Fischer sein rotes Netz zum Trocknen ausgebreitet. Wie überall in der Welt, liegt auch in Castro Urdiales die Kirche Santa Maria am schönsten Aussichtspunkt. Am Ende der Stadt ist sie von weither sichtbar. Sie wurde erhaben wie ein Leuchtturm auf eine Klippe gebaut. Als erstes in die Kirche Respektvoll nehmen wir unser Gepäck ab. Ich schäme mich ein wenig für die kurze Hose, hoffe aber, dass die Kirchendiener ein Nachsehen mit einem Pilger haben werden. Und genau so kommt es auch. Ein junger Gottesmann namens Diego bittet mich zu sich in die Sakristei um mir einen Stempel in meinen Pilgerausweis zu drücken. Es ist der schönste Stempel, den ich bisher in meinem Pilgerausweis, dem Credenzial habe. Meine kurze Hose stört ihn ebenso wenig, wie mein Rucksack, den ich in der Kirche vor mir mit meinen Händen trage. Dann führt mich Diego durch das dunkle Kirchenschiff. Mit flammender Begeisterung erklärte er mir die zehn Stationen Jesu Christu. Der Kreuzweg, so bezeichnet man den letzten Leidensweg Jesus Christus zur Kreuzigung, ist wie immer äußerst düster und grausam dargestellt. Im ersten Bild wird Jesus zum Tode verurteilt. „Pontius Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt? Da schrien sie alle: Ans Kreuz mit ihm!“ [9] Danach nimmt Jesus das Kreuz auf seine Schultern. Und er fällt dreimal unter der Last des Kreuzes zusammen. Schließlich wird er seiner Kleider beraubt und gekreuzigt. INRI, das sind die Anfangsbuchstaben für den spöttischen Namen Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum, Jesus von Nazaret, König der Juden. Die Bilder verraten nichts über den weiteren Weg in den Himmel und ich frage mich, warum stellt man da nichts Positiveres dar? Wenn ich selbst der Maler oder der Auftraggeber gewesen wäre, dann hätte ich noch ein paar Stationen angefügt, die auch ein bisschen Hoffnung wecken und zeigen, dass nichts im Leben umsonst ist! Nach dem privat geführten Kreuzweg nehme ich wie immer in einer der hintersten rechten Bänke Platz. Doch auch dieses Mal traue ich mich wieder ein paar Reihen weiter nach vorne. Ich knie mich nieder und versinke in meinen Gedanken. Ist meine Pilgerreise eine religiöse Reise? Hat sie einen spirituellen Sinn? Bin ich auf der Suche nach Gott? Werde ich Antworten und Einsichten bekommen? Ich weiß es nicht. Aber ich lasse mich darauf ein und möchte herausfinden, was der Weg mir bringen wird. Allein in einer dunklen, Ehrfurcht einflößenden Kirche zu sein, ist so oder so schon ein bewegender Moment. In einem Gemäuer links des Ausgangs legen Pilger verschiedene persönliche Dinge ab, die hier verbleiben und den Zugang zu einer spirituellen Welt eröffnen sollen. Auch ich trenne jetzt mich von einem geliebten Gegenstand, den ich sehr vorsichtig durch die geschmiedeten Gitterstäbe hindurch auf seinen vorgesehenen Platz lege. Was immer mir dieses Ritual bringen würde, ich tue es einfach. Meine Pupillen benötigen erst einige Sekunden, um sich wieder an das grelle Licht im Freien zu gewöhnen. Vor mir steht ein professioneller Bettler, der ganz im Gegensatz zu mir mit Markenkleidung und einer teuren Ray Ben Sonnenbrille bekleidet ist. Recht aggressiv will er von mir auf die Mitleidstour etwas haben. Ich sage zu ihm auf Spanisch: „Erzähle mir etwas von dir und deinem Schicksal“. Als Antwort kommt prompt ein englisches „Fuck You“. Jean-Louis, der gerade ebenfalls aus der Kirche heraustritt, erwidert sein Fuck You, indem er ihm liebevoll einen Arm auf die Schulter legt und ihm einen „bon camino, mon ami“ wünscht. Nun ist er böse verstummt. Ehrlich gesagt, möchte ich mich jetzt unbedingt weltlicheren Dingen zuwenden, denn ich habe einen Bärenhunger. Es ist Sonntagmittag. Paella – wer sich’s leisten kann! Wenige Steinstufen von Santa Maria entfernt lassen wir uns dann nieder um etwas zu essen. Und zwar in einem richtiges Speiselokal. Hinein trauen wir uns mit unseren Klamotten natürlich nicht, aber Draußen im Freien ist fast alles frei. Dem Kellner ist es recht so. Wir sind immer noch übermütig. Weil es Sonntag ist, hat Jean-Louis natürlich eine passende Entschuldigung für das nicht ganz Standesgemäße Essen parat: „Seulement une exception – nur eine Ausnahme“. Ich kann spüren, dass er richtig, wirklich richtig Hunger hat und sich heute, genauso wie ich etwas gönnen möchte. Am Nebentisch verspeist ein englisches Touristenpaar eine Paella und die bestellen wir dann auch. Allerdings zu zweit und ohne in der Speisekarte nach dem Preis zu sehen. Kann schon nicht so viel kosten, ein wenig Reis mit Zeug drin? Es ist und bleibt dann die erste und auch letzte bestellte Paella am gesamten Jakobsweg. Die Rechnung für einen Teller Paella beträgt gesalzene 22(!) Euro. Und wir werden nicht einmal richtig satt. Jean-Louis möchte nun die nächsten Tage drastisch sparen, um sein Budget nicht zu sprengen. Sitzfleisch haben wir nicht mehr. Und der Kellner, der sein Geschäft schon gemacht hat, bietet uns auch keinen Kaffee mehr an. Ich schätze, er lässt uns gerne weiter ziehen. Schon 1.500 Kilometer auf den Beinen! Beim Weitergehen erzählt mir dann Jean-Louis wenig über seinen Camino. Zum ersten Mal. Jean-Louis ist schon in Chambery, seiner Heimatgemeinde in Frankreich gestartet. Er hat bereits 1.500 Kilometer zu Fuß hinter sich. Über die Gründe, die ihn zum Camino geführt haben, will er mit mir nicht sprechen. Noch nicht? Kurz außerhalb Castro Urdiales muss ich auf Jean-Louis warten. Er ist nach dem Essen deutlich langsamer geworden. Als er mir auf den grasgrünen Felsenklippen entgegen stapft, habe ich die Idee, diese Szene irgendwann zu Malen. Jean-Louis in der Bildmitte, unter seinen Füßen ein schmaler Trampelpfad, umsäumt von trockenen Gräsern. Hinter ihm liegt das ruhig gewordene stahlblaue Meer. Farben, so satt, wie man sie nur nach viel Regen sehen kann. Jeder Schritt, jede Bewegung prägt sich tief ein. Ich studiere auch intensiv den Hintergrund. Der ist mittlerweile unendlich weit weg. Die Windräder von La Arena kann man im leichten Dunst in der Ferne nur noch erahnen. Richtig sehen kann man sie nicht mehr. Ich versuche mir, die Farben ganz genau einzuprägen. Und ich beobachte aufmerksam den Schatten, der Jean-Louis mit jedem Schritt vorauseilt. Eine schnelle Strich-Skizze in meinem Tagebuch wird diese Impressionen hoffentlich bewahren. Ich möchte irgendwann aus der Skizze ein Ölgemälde malen. Mark und Sabine haben zwischenzeitlich sicher den unbarmherzigen Abstecher über die Küstenstraße genommen. Es geht ihnen nicht um die Seele des Weges. Sie sind getrieben vom Navi und besessen von der kürzesten Verbindung. Eine absurde Kulisse bietet sich nun, weil der Jakobsweg genau jetzt auf der seelenlosen Küstenstraße landet. Angebunden an einem Jakobsweg-Schild für Autofahrer (Warnung vor Pilgern) wartet ein Esel auf den letzten Apfel, den Jean-Louis bei sich hat. Der Esel hinter der Leitplanke bettelt nicht. Er ist einfach da und scheint nun jeden Bissen zu genießen. Die weitere Streckenführung erinnert mich an einen heißen amerikanischen Highway, der sich schnurgerade über alle Höhen und Tiefen hinweg seinen Weg mit Sprengstoff gebahnt hat. Asphalt ist der größte Feind eines Pilgers. Die Luft über dem Belag flimmert bis in die innersten Gehirnregionen hinein. Dieses Gefühl ist zermürbend. Man bekommt den Eindruck, nicht vorwärts zu kommen. Die Autos spiegeln sich in der Ferne noch in der heißen Luft, bevor sie das Flirren dort hinten vollständig verschluckt. Wie weit mag das weg sein? Mit den Schlieren der erhitzten Luftschicht bekomme ich einen Vorgeschmack für die Weite, die vor mir liegt. Unweigerlich setze ich mich mit Schnecken und Ameisen gleich, wenn Autos vorbeibrausen. Trotzdem denke ich mir, bestimmt bin ich zu Fuß schon weiter, als viele normale Autofahrer heute zurücklegen, wenn sie an mir vorbeibrausen. Gute Zweihundert Kilometer haben mich meine Füße bisher schon getragen. 651 Kilometer sind es noch nach Santiago de Compostela. Ohne Umwege. Zähle nicht rückwärts. Lebe! Erstmals bekomme ich nun ein Gefühl für die Strecke und für die Zeitverhältnisse. Aber ich werde nicht anfangen, rückwärts zu zählen. Das ist doch idiotisch. Der Unsinn, Tage rückwärts zu zählen ist mir erstmals in der Bundeswehr klar geworden. Doch es beginnt schon viel früher im Leben. Wie viele Jahre noch bis zum 10. Geburtstag. Gut: Diese Frage ist kindlich und auch noch völlig normal. Wie viele Jahre noch, bis ich endlich aus der Schule bin? Nun, hier beginnt es wohl schon, dumm zu werden. Denn was kommt nach der Schule? Wird dann alles besser im Leben? Und was bringt es, wenn man danach wieder zu zählen beginnt – rückwärts, wohlgemerkt? Noch 50 Tage bei der Bundeswehr? Mit dem Fixieren auf den Countdown verliert man das Wertvollste, was man hat: Den Augenblick! Man richtet sich nicht mehr ein, im Hier und Jetzt. Man wartet vielmehr auf das Verfallsdatum! Welcher Countdown kommt als nächstes? Richtig: Wie viele Jahre noch bis zur Rente? Toll, und dann? Wie lautet die Frage dann? Wie viele Tage habe ich rückwärts gezählt, anstatt sie gelebt zu haben? Kilometer rückwärts zu zählen erscheint mir ebenso abwegig. Ich gehe vor mich hin. Punkt. Mal sehen, wo ich heute ankomme. Die falsche Seite der Straße Der linke, mit einer durchgehenden weißen Linie markierte Streifen der Schnellstraße soll uns nach den Plänen der Regierung den Jakobsweg anbiedern. Doch das interessiert nicht die Autofahrer. In Spanien war es bis vor Kurzem nicht üblich, dass Fußgänger in die entgegengesetzte Richtung laufen. Das taten nur deutsche Besserwisser. Einige Fernfahrer versuchen daher, uns noch heute „eines Besseren zu belehren“, in dem sie sich ganz offensichtlich einen Spaß daraus machen, sehr knapp an uns vorbei zu fahren und zu hupen. Jean-Louis hat mit seinem Stock schon einige LKWs gestreift, die allerdings sind davon völlig unbeeindruckt. Dann pfeifen wir auf die linke Seite und gehen wieder rechts. Egal wer oder was sich von hinten nähert. Wir haben wieder Ruhe. Die Hitze des pechschwarzen Asphaltbelages macht mich wütend. Es ist so ein Gefühl, wie wenn ich mit meinem mp3-Player und Technobeats unterwegs wäre. Meine Sandalen sind auf diesem unmenschlichen Belag keine guten Begleiter. Jeder verdammte Schritt dringt unmittelbar vor zu meinem Schmerzzentrum. Ich fange an, den Weg zu verfluchen. Schon lange spricht Jean-Louis kein einziges Wort mehr mit mir. Er ist völlig verstummt. Sein Gesicht zeigt keine Miene. In sich gekehrt scheint er irgendwelche Mantras vor sich hin zu murmeln. Wir gehen wieder auf Abstand. Besser so, denn der Asphalt saugt extrem an unseren Kräften und an der Psyche. Und streiten möchte ich mit Jean-Louis sicher nicht. Hier ist jeder allein. Und jeder muss für sich selbst damit fertig werden. Auch so eine Art Prüfung, die mir dieser eintönige Abschnitt auf der Straße beschert. Der Blick auf ein Ziel ist... unsinnig! Ich merke, dass ich plötzlich so verbittert bin, wie sonst in der Arbeit. Seit einer halben Stunde fixiere ich das Ende des Horizontes, wo ich einen Mast sehe. Er kommt nicht näher. Aber ich lasse ihn mit meinen Blicken nicht mehr aus den Augen. Ich starre ihn verbissen an. Dieses hartnäckige und trotzige Fixieren eines Punktes verahnt mir allerdings eine innere Kraft, die mich weiter und weiter voranbringt. Angriff! Je länger ich den Punkt anstarre, umso mehr verengt sich mein Gesichtsfeld und die fortwährend gleichen Schritte versetzen mich wieder in einen Trance-Zustand. Ich spüre, wie meine Hände zu Fäusten geballt sind und der Schweiß unablässig aus meinem Gesicht perlt. Es ist so, wie in der Sauna, wenn man zuvor gewettet hat, es zwanzig Minuten auf der obersten Bank auszuhalten. Die Sanduhr würde wohl eine gefühlte Ewigkeit rieseln und dann ist erst einmal Halbzeit. Umdrehen und weiter geht es. Nein, ich möchte nicht ablassen von dem Masten da vorne. Ich möchte diesen Punkt möglichst schnell erreichen und hinter mir lassen. Ungewollt werde ich schneller. Auch Jean-Louis, der jetzt weit hinter mir ist, wird schneller. Der Abstand bleibt gleich. Alle paar Hundert Meter stehen hier überlebensgroße Jakobsweg-Warnschilder an der Straße. Alles ganz im Look einer übermächtigen „europäischen Straßenverkehrsordnung“. Wie hoch mögen die Subventionen aus Europa sein? Leider steht das Preisschild dieses Mal nicht daneben. Ein kleineres Projekt also. Jean-Louis macht sich jetzt lustig über die Achse „Sarkozy et Merkääl“. C’est fou – Das ist doch alles verrückt“, meint er. Wie zur Erlösung kommt dann noch vor dem Horizont ein Abschnitt, der uns durch die Natur führt. Leider werde ich also den Masten in der Ferne nicht erreichen. Es kommt eben immer anders! Gott sei Dank! Dafür werde ich schlagartig wieder fröhlich. In einem kleinen Dörfchen setzen wir uns beide auf eine Steinbank an der Nordseite einer kleinen Kirche. Hier gibt es einen erfrischenden Brunnen mit Trinkwasser. Das Dörfchen, dessen Namen ich nicht kenne ist die Erholung pur. Kein einziges Auto sehe ich hier. In einiger Entfernung laufen zwei Kinder auf einer Wiese umher. Und neben der Steinbank geht im Vorderhaus der Kirche die Türe auf. Es ist der Dorfpfarrer. Kurz winkt er uns zu, so als ob er uns jetzt gerade gesegnet hat und dann steigt er in einen alten Citroen und braust davon. Auch wir brechen wieder auf. Bis nach El Pontarron de Guriezo mögen es vielleicht noch 6 Kilometer sein, aber heute erscheint mir jeder verdammte Kilometer wie ein Lichtjahr. Schon nach kurzer Zeit stoßen wir wieder auf die Schnellstraße, die sich ab jetzt wieder Jakobsweg nennt. Und sofort gehen wir beide wieder auf Abstand. Jeder für sich. Das letzte Stück nach Guriezo ist landschaftlich hinreißend - für einen Autofahrer! Für einen Pilger ist die Strecke einfach nur „hart“. Auf meiner Rechten begleitet mich schon seit zwei Kilometern ein traumhaft schöner, aber verlassener Strand. Ein paar Angler sind hier und hin und wieder steht ein Campingbus herum. Obwohl ich gerade mitten auf der Nationalstraße N634 bin, kommt kaum ein Auto mehr vorbei. Der Verkehr spielt sich nahezu ausschließlich hoch oben auf der neuen E-70 ab. Danke EU, wäre nicht nötig gewesen. Im Mündungsgebiet des Aguera Ibaia Langsam komme ich dem Mündungsgebiet des Aguera Ibaia entgegen. Weitläufige ockerfarbene Sandflächen wechseln sich mit fließendem Wasser ab. So wie ein Stück Nordseeküste, eingesäumt in eine tiefgrüne Fels- und Hügellandschaft. Wäre ich nicht zu erschöpft, dann würde ich hier sicher ein Dutzend Fotos machen. Am Spätnachmittag laufen wir in gebührlichem Abstand ziemlich geplättet in das schöne Dörfchen El Pontarrón del Guriezo ein. Hier spannt sich hoch über dem Dorf eine neue gigantische Autobahnbrücke über das Tal. Etwas landeinwärts liegt die Herberge. Das Grundstück grenzt direkt an den romantischen Flusslauf des Aguera Ibaia. Durch ein altes Gartentor gelangt man über ein paar in den Weg hängende Brennnesseln zum Ufer. Trotz Schlamm kann ich mir sehr gut vorstellen, wie schön es hier trocken sein mag. Jetzt nach den Regenfällen gibt jeder Schritt dort hinein ein lustiges Schlürfen von sich. Wenn das Shampoo nicht mehr abgeht... Leider ist die Herberge seit den letzten Tagen sehr feucht und muffig. In trockenem Zustand ist sie bestimmt durchaus empfehlenswert. Aber heute sind die Matratzen mit der Feuchtigkeit unserer Vorgänger vollgesaugt. Und die Dusche tröpfelt nur kalt vor sich hin. Ich tue gut daran, auf eine Dusche zu verzichten. Jean-Louis hat nämlich gerade seine liebe Mühe, das eifrig aufgetragene Shampoo wieder los zu werden. Und das, was ich da akustisch gerade auf Französisch miterlebe, ist zugegebenermaßen sehr erheiternd. Die Tenside scheinen sich mit den kalten Wassertropfen nicht mehr von seiner Haut lösen zu wollen. Ich muss lachen. Voller Schadenfreude, lege ich mich ganz gemütlich im schönen Vorgarten in die Sonne. Nun kommen auch Mark und Sabine an. Wie sie das geschafft haben – keine Ahnung. Wie immer haben sie diese übertriebene Hurrastimmung. Oje, und dann taucht auch noch das sonderbare Ehepaar aus Neuseeland auf. Gibt es die auch noch? Beide haben die Küsten-Eisenbahn bis hierher genommen. Weil Sie vom anderen Ende der Welt kommen, stelle ich mir gerade vor, wie sie auf dem Kopf stehend ankommen. Bei der Vorstellung an den Kopfstand und eine umgekehrte Gravitation entkommt mir ein lautes Lachen. Meine Assoziationen behalte ich aber für mich und so fassen die beiden Neuseeländer mein Lachen als herzliche Begrüßung auf. Passt! Kaum angekommen, trotteln - äh trotten sie noch ins Dorf, um in der Bar El Pontarron (mehr ist dort nicht los) das Fußballspiel Neuseeland gegen Italien anzusehen. Das 1:1 muss die beiden geizigen Neuseeländer angestachelt haben. So sehr, dass sie gleich mit mehreren Flaschen Wein in die Herberge zurückkehren. Feiern war wohl geplant. Daraus wird aber nichts. Auge um Auge, Stein um Stein. Herrlich! Alejandro, ein gedrungener und muskulöser spanischer Extrempilger, meint, ohne dass es die Neuseeländer hören können: Lasst uns alle noch einmal aufbrechen. Oder wollt ihr mit den Neuseeländern feiern? Obwohl er es auf Spanisch sagt, verstehe ich sogar seinen Zynismus zwischen den Zeilen. Wau, was für eine sprachliche Genugtuung. Endlich können wir ihnen die ganze Geizigkeit heimzahlen. Er meint: Die nächste Herberge in Liendo soll schön und neu sein. Und sicher wäre sie auch trocken. Ich nehme ihm jedes Wort ab. Alejandro trägt ein blaues Muskelshirt vom Inkatrail. Am Rucksack prangen die passenden Embleme vom Rio Urubamba und dem Machu Picchu in Peru. „Allechandro“ sieht aus wie ein tätowierter Elitesoldat. Klein, glatzköpfig, mit grimmigem Schnauzbart. Aber sehr sympathisch. Jean-Louis schläft um diese Zeit schon tief und fest, obwohl lustigerweise die einzigen Sonnenstrahlen im Schlafraum exakt in seine Augen scheinen. Scheiß drauf! Ich wecke ihn jetzt auf. Schlaftrunken und ein wenig missmutig sieht er mich an, und fragt mich auf Spanisch „Qué pasa? Was ist los?“. Allez, allez! Wir gehen noch einmal los! Wie unter Befehl packt Jean-Louis sofort seine sieben Sachen zusammen. So wie alle anderen in der Herberge. Die Gruppendynamik löst eine wahre Euphorie aus. Die sicheren Schlafplätze jetzt wieder aufgeben? Eine weitere Etappe wagen? Die Kommandoaktion „Liendo“ beginnt. Vorwärts, Marsch, Marsch! Vergessen sind die müden Füße. Wer einmal ruht, der geht nicht mehr? Quatsch! All meine Bedenken gehen in der überschwänglichen Aufbruchsstimmung völlig unter. Jippie, es geht weiter! Die nichtsahnenden Neuseeländer warten mit einem fantasievoll gedeckten Steintisch und viel Wein in stolzer Siegerpose im Vorgarten auf uns. Nun stürmen wir alle gleichzeitig wie eine Sondereinheit mit geschultertem Gepäck aus der Herberge heraus. „Ola, una nueva etapa! Felicitación, bon Camino!“ Dem Ehepaar bleibt der Wein schier in der Kehle stecken. Offensichtlich hat bereits jeder von uns mit ihnen schon unangenehme Erfahrungen gemacht. Die furchtbare Knauserei rächt sich jetzt. Dass sich alles gegen sie verschworen hat, sprengt sicherlich ihre Vorstellungskraft. Natürlich ist es Mark, der beim Verlassen der Herberge noch einen sarkastischen Schlachtruf absetzt: „Nueva Zelanda-aaaaaaa“. Der Nachhall auf das andere Ende der Welt erheitert mich noch eine ganze Weile beim Aufstieg von Null auf Hundertvierzig. Inkatrail führt uns nach Liendo In einer traumhaften Spätnachmittagstimmung marschieren wir im militärischen Gleichschritt synchron hinter „Inkatrail“ her, wie wir ihn von jetzt an nennen. Er ist höchstens einen Meter und sechzig, mit der Figur eines Bodybuilders. Sein Gepäck gleicht einer Survival-Ausrüstung für zwei Monate Regenwald. So barbarisch sein Äußeres auch wirkt: Er ist eine sehr einfühlsame und sensible Seele und ich kann mich gut mit ihm unterhalten. Inkatrail, Mark, Sabine, Jean-Louis und ich sind nun für diese kurze Zeit ein Team. Wir wissen, dass sich die Wege bald wieder trennen werden, doch jetzt spornt uns der gemeinsame Streich richtig an. Nach einem steilen Anstieg kommen wir dann über eine Autobahnbrücke und sehen für einen kurzen Moment in die Tiefe. Dann geht es mit riesen Schritten weiter nach Liendo. Wie aus dem Reservetank scheinen unsere Kräfte zu sprudeln. Kurz vor Liendo empfängt uns ein witziges Verkehrsschild: „Prohibida La Venta Ambulante Con Megafonías!“ Schaltet gefälligst eure Sirenen ab! Ihr befindet euch im verträumten Liendo. Macht keinen Lärm, wenn ihr da durchsaust! Wir sind trés amusée, denn was sollte hier schon groß los sein? Natürlich ist es wieder Mark, der uns von hinten her eine Sirene vorheult „O-U-Ihhhhhh“. Ergänzt durch ein „Pobre Nueva Zelanda, armes Neuseeland“. Lustige Schatten in Monstergröße Die letzten Meter nach Liendo sind große Klasse. Im allerletzten Licht der gerade untergehenden Sonne, sind unsere eigenen Schatten auf Monstergröße angewachsen. Die Sonne taucht Liendo extra für uns noch einmal in ein helles orangefarbenes Gegenlicht und zaubert uns eine dunstige Idylle vor die Augen. Wir gehen hinter der Kirche entlang zur Herberge. Und als wir hinter der Kirche wieder hervorkommen, ist die Sonne auch schon in den Bergen verschwunden. Liendo liegt schlagartig im Schatten. Wir haben unser Tagesziel erreicht! Wie immer belohnt mich der Zufall. Oder ist es doch mehr? Die neue Herberge ist bezaubernd. Ein liebevoll hergerichtetes Schulhäuslein. Stilvoll und mit einem ganz eigenen Charme. „Inkatrail“ erzählt abfällig von den extremen Massenherbergen Camino Francés. Ja, auch er als Spanier hat Kerkeling gelesen. Er hat diesen Jakobsweg letztes Jahr gemacht. Allerdings rückwärts, wie sich herausstellt. Unter Pilgerfreunden In Liendo sind wir nun unter Pilgerfreunden. Es gibt ein Wiedersehen mit der Italienerin Daniela. Sie hat ebenfalls einen Abstecher mit der Eisenbahn gemacht. Und ein Wiedersehen mit den Spaniern Manu und Jesus. Natürlich nicht der Jesus. Aber er sieht wirklich genau so aus. Abgemagert, schulterlange zottige dunkle Haare, einen Al-Kaida-Bart. Stets nur in Badeschlappen. Und oben ohne laufend. Eigentlich fehlt ihm nur noch ein schweres Holzkreuz. „Jesus“ ist mir schon einmal begegnet, als er Ingrid und mich in den Bergen vor Lezama überholte. Eigentlich hätte ich ihn längst viel weiter vermutet. Aber man sieht sich immer wieder, am Jakobsweg. „Italien und Spanien“ bekochen uns heute. Zuvor haben sie von jedem vier Euro eingesammelt. Der Gegenwert ist nun ein üppiges mediterranes Küchenerlebnis. Essen und Wein im Überfluss. Manu, ein sympathischer Spanier kommt mir nach dem Wein bekannt vor. Und er denkt ebenfalls, mich irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Jean-Louis ist langsam erschöpft. Das liegt sicher auch daran, dass er als Franzose nie eine andere Fremdsprache erlernt hatte. Ich unterhalte mich mit ihm auf Französisch, mit Daniela auf Italienisch, mit Sabine auf Englisch, obwohl sie ja eine Deutsche ist. Aber so können auch die anderen etwas von uns verstehen. Überhaupt brauche ich nach den Tagen mit Ingrid mein Deutsch nicht mehr. In der gemütlichen Atmosphäre beginnt es, spät zu werden. Mittlerweile ist es auch schon fast Mitternacht. Zu dieser Zeit schläft ein Pilger normalerweise schon seit ein paar Stunden. Gut, dass wir beide noch die Kurve gekratzt haben. Es war höchste Zeit, dem Wein nun zu entsagen und zu schlafen. Allerdings war es noch laut in der heutigen Nacht. Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis Pobeña – Liendo Array ( ) Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg Array ( ) Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3 Array ( [0] => ) 1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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    Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:

    Camino de la Costa, Camino del Norte