SANTANDER – POLANCO
Santander – Polanco
Tag 11: 30 km, flach (300 Höhenmeter), über Penacastillo, Mompía, Boo de Piélageos, Mogro.
Der heranbrechende Morgen ist keine Erlösung. Ich bin einer der ersten. Der Schmerz hat mich geweckt. Mein Fuß pocht mit jedem Pulsschlag kräftig mit.
Als mich der Herbergsvater ganz leise mit dem Ende meiner Reise konfrontiert, werde ich wütend. Richtig wütend. Nein, es geht weiter. „Niemals, es wird nur noch schlimmer werden“, erwidert er. Nein und noch einmal nein, ich werde hier weitermachen! Ich bin gerade so laut, dass nun sicher alle aufgewacht sind.
Und in dieser Wut breche ich augenblicklich auf. Ohne Frühstück und ohne Toilette. Wie schön ist es da, die Notdurft nun im Freien verrichten zu dürfen, auch wenn mich ein spanischer Autofahrer anhupt (hätte ich auch getan).
Ausgerechnet heute sind es nach Santillana del Mar über 47 Kilometer. Von einem Ort namens Polanco weiß ich noch nichts. Eine völlig utopische Etappe also. Der Herbergsvater hat uns gestern auf Google Earth die Lage gezeigt. Luftlinie wäre es kürzer. Der direkte Weg ist aber des Öfteren versperrt, zum Beispiel durch den Rio Saya und eine große Chemieanlage in Requejada. Das raubt mir psychisch jeden Auftrieb. Ausgerechnet heute die längste Etappe. Wie soll das gehen?
Stöcke, an denen ich mich festklammern kann, wären jetzt gut.
Nach quälend langen 13 Kilometern ist meine „Regenwolke“ auf Hochtouren. Sie hat also noch nicht aufgegeben. Die Nervenverbindungen für Pessimismus und Depression gibt es ja noch. Und sie arbeiten gerade gegen mich.
Das war’s dann von meiner Seite!
Meine „Regenwolke“ fasst einen unbarmherzig harten Entschluss: Hier ist es vorbei. Mit voller Brutalität verdeutlicht sie mir das jähe und abrupte Ende. Sie hat sich sogar schon detailliert auf die Überbringung der schlechten Nachricht vorbereitet. Hier in Mompía soll ich in die Eisenbahn einsteigen, an deren Trasse ich gerade entlang humple. Und ich soll dann von Santander aus gefälligst heimfliegen. Die Sonne knallt mir in mein Gesicht und treibt mir die letzte Willenskraft aus meinem Körper. Ja, das war es dann von meiner Seite.
Gedemütigt, aber irgendwie auch erleichtert darüber, dass die Schmerzen nun endlich ein Ende haben, hole ich mein Notfallhandy heraus. Schwermütig wähle ich die Nummer meiner Frau. Ich habe mich gerade auf eine Leitplanke gesetzt. Freizeichen, es piept fünfmal. Dann hebt sie ab.
Angstvoll erzähle ich ihr, dass ich heute heimreisen würde. Gleichzeitig hoffe ich wie ein Sünder um Verständnis und Absolution. Nur Conny hätte mir diese zentnerschwere Last abnehmen können. Doch sie unterbricht mich barsch: „Stopp – Das ist allein Dein Problem!“. Sie könne und vor allem wolle jetzt mit mir nicht sprechen. Sie sei gerade mitten in einem Meeting. Und dann legt sie auf. Ja, sie legt tatsächlich einfach auf. Das tat sie noch nie zuvor.
Wie in einem schlechten Film wiederholen sich nun diverse Szenen in meinem Kopf. Der Herbergsvater erscheint mit seinem Text „aus, vorbei, finiiiito!“. Und es hämmert „mach doch, flieg doch heim, ja lauf‘ davon. So wie immer“. Dann höre ich wieder „Dein Problem“ und den anschließenden Piepton des beendeten Telefonats. Immer und immer wieder. Meine Hormone rauben mir gerade meine Sinne.
Es ist eine unglaubliche Wut, die gerade in diesem Moment in mir emporsteigt.
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Mein Urprogramm beherrscht mich und es treibt mich hoch von der Leitplanke. Ein paar Meter vorwärts, dann wieder rückwärts. Dann haue ich im Zorn mit voller Wut mit meiner Hand auf die Leitplanke. Ich krümme mich vor Schmerzen. Natürlich ist Stahl viel härter, als meine Hand.
Es musste so sein, dass ausgerechnet in diesem Moment Jean-Louis zusammen mit einem anderen Pilger fröhlich daher kommt. Er hat einen französischen Wandergefährten gefunden.
Ich sage zu ihm mit Schmerz verzerrtem Gesicht „ c’est fini“ – es ist aus. Er umarmt mich nur ganz kurz. Ohne eine weitere Regung zu zeigen, verabschiedet sich Jean-Louis mit einem äußerst knappen „aurevoir mon ami“. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Hat er sich telepathisch mit meiner Frau verbündet?
Schon ist er wieder weg und ich verfalle in einen regungslosen Zustand der Depression. Alles ist plötzlich unfair, ungerecht und abweisend.
Ich humpele erst einmal weg von der Eisenbahn. Ich flüchte. Flucht heißt, weg vom Ort des Geschehens, Ruhe suchen und Wunden lecken.
Ich verschanze mich
Dann verschanze ich mich in die Räumlichkeiten einer grässlich verwahrlosten Bar. Hier beginnt wohl das Steinzeitprogramm „totstellen“.
Wenn ich mich jetzt so von oben betrachten könnte, würde ich sagen „der Typ ist erledigt“. Zusammengekauert, den gesenkten Kopf in den Händen sehe ich aber nicht wesentlich anders aus, als die anderen Gäste.
Die hängen hier schon am Vormittag völlig besoffen herum. Einer provoziert mich laut mit: „Hey Peregrino“. Da ich mich aber gerade im Modus „Todstellen“ befinde, funktioniert das Programm zum Angriff (Gott sei Dank) nicht.
Ich spiele auf meinem Handy herum und fasse einen weiteren Entschluss. Ich rufe jetzt meinen Schwiegervater an, um dem wenigstens Verständnis für den Abbruch meiner Reise abzuringen. Das wird bestimmt klappen. Er ist immer verständnisvoll.
Als wenn sich alle gegen mich verschworen hätten, redet er mich völlig unerwartet extrem blöd an, als er von meiner geplanten Heimkehr hört. „Das kannst du jetzt den Kindern und Conny aber nicht antun. Die haben so fest an dich geglaubt.“ Piep. Aufgelegt. Ich fasse es nicht. Das war ein Volltreffer gegen die Amygdala, meinem Steinzeit-Mandelkern im Gehirn.
Der Fluchtweg nach Hause ist versperrt
Es bleibt einzig und allein die Richtung nach vorne. Gesteuert vom Autopiloten. Überflutet von Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und was weiß ich von welchen Botenstoffen sonst noch. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Nun bin ich wieder bei der Leitplanke. Verachtungsvoll spucke ich sie an und dann gehe ich weiter. Nach zwei Kilometern drehe ich wieder um. Nun hat meine „Regenwolke“ wieder die Kontrolle an sich gerissen. Ich humple noch einmal eine Dreiviertelstunde zurück zu der hässlichen Bar. Hier stehe ich nun vor dem Eingang. Reingehen will ich aber auch nicht.
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Noch einmal rufe ich Conny an, denn es geht einfach nicht mehr. Und noch einmal tut meine Frau genau das Richtige, sie gießt weiteres Öl ins Feuer.
Ich hätte nie gedacht, dass Wut ein so starker Antrieb sein kann und in dieser Stärke sogar meine Schmerzen zu übertönen scheint.
„Gott liebt dich“ – Bild
Mit geballten Fäusten laufe ich nun wieder los, nach vorne. Die Strecke kenne ich ja schon.
Links, rechts, links – Kompanie. Die Augen geradeaus! In meinem Gehirn dröhnt jetzt sogar ein altes Bundeswehrlied. Das mussten wir auf unseren Bergtouren immer dann singen, wenn wir der Erschöpfung nahe waren. „Wenn der Gei-gel-stein, rot er-glüht. Und in der Mor-gen-sonne strahlt, tra la la“. Ich hasse dieses Lied noch heute zutiefst. Es ist damals ein Synonym geworden für totale Verausgabung, Schmerzen und Ohnmacht. Hätte ich jetzt nicht gewusst, dass ich ja gar kein Gewehr auf meiner Schulter herumschleppe, so hätte ich bei jedem Schritt tatsächlich den Schlag Metall gegen Knochen gespürt.
Obwohl ich dieses verdammte Lied hasse, singe ich es leise vor mich hin und bewege meine Füße. Ich bekomme nichts mehr mit von meiner Umgebung, sondern bin in Gedanken bei der Geigelstein-Überschreitung. Vor mir ein erschöpft keuchender Gefreiter, hinter mir ein Gefreiter, der gerade wieder einmal hingefallen ist. Als wäre es gestern gewesen, kann ich mich an jede Kurve, an jede Steigung und an jede Passage erinnern. Auch wenn mir meine Erinnerung dabei vielleicht einen Streich spielt. Ich weiß, dass ich jetzt durchhalten muss. Geistig abwesend gehe ich einfach, so gut es geht.
Eine spanische Frau um die Vierzig ruft mir von weitem zu „Nein, du bist falsch hier“. Sie winkt mit beiden Armen und zeigt auf einen Feldweg, der 500 Meter von mir entfernt richtig einmündet. Anstatt zurück zu laufen, nehme ich den direkten Weg durch hüfthohes Gestrüpp. Immer wieder ruft sie mir auf die weite zu und winkt. Sie versteht sicher nicht, warum ich mir das gerade antue und nicht einfach schnell außen herum marschieren möchte.
Ja, Pater Ernesto: Ich habe Hilfe angenommen. Und ja, ich bin stur. I’ll do it my way!
Mein Handy ist aus. Ich will so schnell mit keinem mehr sprechen.
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Die verbotene Brücke
Völlig abwesend nähere ich mich der „verbotenen Brücke“. So nennen sie die schmale Eisenbahnbrücke hier, die die einzig sinnvolle Verbindung zum anderen Ufer des Flusses Pas weit und breit ist. Verboten, aber dennoch im Reiseführer – unter Ausschluss jeder Haftung – beschrieben.
Ja, etwas Verbotenes tun. Ok. Aber mein Hormonspiegel ist heute auch so schon hoch genug, dass ich diese verbotene Brücke eigentlich nicht brauche. Ich nehme sie trotzdem.
Ich lege also meine Ohren auf die Schienen, ganz so wie in einem Westernstreifen. Keine Angst, ich will mich ganz sicher nicht umbringen und ich habe auch vorher geschaut! Ich möchte aber lauschen, ob sich ein Zug nähert. Dabei verbrenne ich mir mein linkes Ohr auf den heißen Schienen. Das passt zum heutigen Tag.
Dann riskierte ich es. In der Gruppendynamik zusammen mit anderen Pilgern wäre mir jetzt wohler gewesen. Doch da ist niemand. Wirklich niemand.
Die Überquerung der Brücke ist schon ein wenig beunruhigend. Ich stelle mir einen ICE vor, der hier im Mini-Abstand an mir vorbeisausen könnte. Kaum Distanz zu den Gleisen, grober Bahnschotter und schlechter Halt. Und der Zug kommt dann tatsächlich. Gott sei Dank aber erst, als ich bereits das Viadukt passiert habe. Es ist auch kein ICE, sondern ein gemütlich langsamer Regionalzug. Der Lokführer sieht mir in die Augen. Er hätte mich sicher am liebsten verprügeln wollen. Bestimmt wird er sich „freuen“, wenn er jemals einen dieser verrückten Pilger in die Hände bekommt!
Als der Schotterweg an den von der Sonne stark aufgeheizten Pipelines von Solvay entlangführt, spüre ich die Strahlungshitze der Rohre. Mein Bundeswehrlied prügelt mich weiter vorwärts. Nicht zurück sehen. Weiter laufen. Nicht hinsetzen. Weiter, weiter. Die Strecke verläuft nun fast schnurgerade und fällt leicht ab. Der Himmel ist vollkommen wolkenfrei, leicht dunstig und hellblau. Es ist absolut windstill und heiß. Bestimmt habe ich heute viel zu wenig getrunken.
Der Deal mit mir selbst
Im Tourenplaner ist von einer kleinen Pilgerherberge in Polanco die Rede. Bis dahin sind es von hier aus vielleicht noch acht Kilometer. Bei meinem Humpelschritt derzeit drei bis vier Stunden. Die Herberge hat jedoch nur „maximal“ sechs Betten. Eine Aussicht auf eine dortige Unterkunft ist also äußerst gering. Trotzdem wird Polanco zu einem realen Ziel. Diesen Ort will ich unbedingt erreichen.
Und ich treffe mit mir selbst eine Vereinbarung: Würde ich es tatsächlich bis Polanco noch schaffen und dort ehrlich noch einen Übernachtungsplatz bekommen, dann, aber wirklich nur dann würde ich noch eine Nacht abwarten! In allen anderen Fällen würde ich mich via Taxi zum Flughafen bringen lassen.
Immerhin, ein guter Deal zwischen den beiden Gegenspielern in meinem Gehirn.
Mit durch und durch pessimistischer Grundeinstellung betrete ich die Bar Quin. Hier gibt es eine nette alte Dame: Ascension. Bei ihr würde man den Schlüssel für die Herberge bekommen, so steht es im Pilgerführer.
Ein Gesicht mit vielen sympathischen Lachfalten strahlt mich an. Das also ist Ascension. Sofort hat Ascension meinen Stoppschalter für mein Grübeln gefunden. Meine Frage, „ob eventuell…“ erübrigt sich. Ascension nimmt einfach den Schlüssel mit gelbem Plastikanhänger vom Tresen und meint „venga venga!“
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Meine eigene Herberge
Venga, venga – was für ein Wohlklang in meinen Ohren!
Trotz ihres hohen Alters muss sie auf mich warten. So schnell geht es bei mir heute nicht. Einem kleinen Busshäuschen gleich, liegt die Herberge schräg gegenüber zwischen Autobahn, Autobahnauffahrt und Schnellstraße. Allerdings ist dieses kleine Bermudadreieck ein kleiner Himmel, welchem sogar eine eigene Quelle entspringt. Weder auf der Schnellstraße war etwas los, noch auf der Autobahn, die man von hier unten auch gar nicht einsehen kann.
So unglaublich es klingt, die Herberge liegt mitten im Grünen und völlig im Ruhigen. Wahnsinn.
Ascension öffnet mir mit strahlenden Augen die Türe. Ich bin heute der einzige Gast. Mit ungläubigen Augen stehe ich im urgemütlichen Vorraum und versteh mein Glück noch gar nicht.
Ascension gibt mir erst einmal frische und duftende Handtücher, dann zeigt sie mir die Betten. Ich habe freie Wahl. Hier kann ich es mir gutgehen lassen!
Nach ein paar kurzen Einweisungen zum Bad zeigt sie mir noch schnell den hübschen Vorgarten im Schatten riesiger Bäume. Das ist jetzt mein eigenes Zuhause! Bevor sie geht, lädt sie mich ein zu ihr nach Hause zum Abendessen. Soll ich das annehmen? Ja, natürlich.
Nach einer ausgiebigen warmen Dusche fühle ich mich endlich ein wenig frischer. So mache ich mich auf, um hinter dem kleinen Holzbrückchen meinen linken Fuß in das frische Quellwasser zu tauchen. Und das tut richtig gut. Ich spüre meinen kühlen Fuß und schlafe eine Zeitlang ein.
Dann gehe ich zurück in „meine“ Herberge.
Warum Menschen pilgern
Im Aufenthaltsraum blättere ich dann völlig entspannt und in aller Ruhe ein wenig in den Pilgerbüchern herum. Hier habe ich mich bisher zurück gehalten. Bis hierher habe ich keine Spuren in Pilgerbüchern hinterlassen und auch nichts darin gelesen.
Nun habe ich sehr viel Zeit und kann mal lesen, was Pilger da so alles hineinschreiben. Vieles davon ist schon sehr persönlich. Mir wird bewusst, dass viele meiner Weggefährten nicht einfach so zum Jakobsweg aufgebrochen sind.
Das stehen nun in mehreren dicken Jahresbüchern die Motive, die einen Menschen bis hierher gebracht haben.
BURNOUT: Viele waren völlig ausgebrannt
Viel ist zu lesen von Problemen und von der Suche nach Gott oder sich selbst. Und sehr viele beschreiben hier Symptome, die zielgenau zu einer Depression passen. Für wieder andere ist es der letzte Weg. Die letzten Tage, die ihnen nach einer schrecklichen Diagnose noch bleiben. Doch sie haben sich gegen eine Chemo entschieden und möchten ein letztes Mal in ihrem Leben frei sein.
Burnout, Midlifecrisis, Scheidungen und zahlreiche andere Motive haben einen Wendepunkt im Leben dieser vielen Pilger markiert, der ihnen allen noch einmal Hoffnung gibt. Oder er gibt ihnen etwas mit auf den Weg. Er ändert die Richtung. Er verschafft eine Pause oder Erlösung. Viele erkennen hier, was sie falsch gemacht haben oder wohin sie nicht mehr zurückkehren möchten.
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Den Sinneswandel erleben
Wildfremde Menschen auf der „Durchreise“ schreiben hier etwas von einem Sinneswandel, den sie erfahren haben, oder den sie gerade erfahren. Und sie schreiben noch mehr. Sie schreiben sogar, den Sinn des Lebens gefunden zu haben. Oder Ruhe und Gelassenheit gefunden zu haben.
Überhaupt habe ich das Gefühl, das die Zeilen alle ihren tieferen Sinn haben und sehr einfühlsam geschrieben sind. Nichts ist hier so, wie man es von einem oberflächlichen Geschäftsbrief her kennt. In der Arbeit schreiben mir Vorstände von Gesellschaften mitunter auch Weihnachtsbriefe in schwarzweiß aus dem Laserdrucker. Farbe wäre zu aufwendig. Und selbst die Unterschrift ist eingescannt. Kann es das sein? Dann in Zukunft bitte lieber erst gar keinen Weihnachtsbrief mehr, als die Zurschaustellung schriftlicher Missachtung oder wenigstens vollkommener Achtlosigkeit.
Pilgerbücher erzählen vom Leben
Hier hingegen ist jede Zeile, ja sogar jedes Wort tiefgründig. Natürlich gibt es auch einfach fröhliche Kundgebungen wie „ich hab‘s geschafft“. Aber auch das ist doch eine sehr wertvolle persönliche Erkenntnis. Sollten Lehrer doch unsere Kinder mal zur Abwechslung 20-mal schreiben lassen „ich bin saugut!“
Der Sinn des Lebens offenbart sich also in einem Pilgerbuch? Stimmt so nicht ganz, denn jedes eigene Leben hat seinen eigenen Sinn. Und der Sinn (oder Unsinn) eines anderen hilft da kaum weiter.
Trotzdem bewegt es mich gerade sehr, was in den Büchern geschrieben steht. Und es gibt mir Kraft. Da ist auch was von Menschen mit Behinderungen zu lesen und da sind Schicksale umrissen, die weiß Gott viel schlimmer sind, als mein linker Fuß.
Es geht keinem darum, Aufzugeben. Es geht darum, den eigenen Weg zu finden. Dann, wenn es beginnt schwer zu werden, erst recht!
Vielen ist hier klar geworden, was sie wollen, wo es hin gehen soll. Der Weg hat ihnen neuen Mut und neue Kraft gegeben.
Verbindungen über Zeit und Raum
Ich bin wie gefesselt von den Einträgen der Pilger, die irgendwann genau wie ich heute schon einmal hier an genau dieser Stelle waren.
Und dann entdeckte ich einen jahrealten Eintrag von einer gewissen Ingrid. Ich bin wie elektrisiert. War das meine Ingrid? Ich weiß, dass sie den Weg schon einmal gemacht hat. Aber gibt es so einen Zufall? Konnte das sein? Es musste einfach so sein!
Ich muss plötzlich an den merkwürdigen Satz denken, den Ingrid mir am Weg gesagt hat: „Wenn wir in Santiago de Compostela angekommen sind, dann kann uns hier nichts passiert sein!“. Wie eine Zeitreisende hat sie sich mal schnell in die Zukunft gebeamt, um von der Warte der Zukunft aus mal eben in die Vergangenheit zu sehen, um mir in meiner Gegenwart zu berichten „das alles gut gegangen ist!“
Und jetzt war sie plötzlich damals schon hier in der Vergangenheit und hat einen Satz wie extra für mich geschrieben! Falls ich hier mal in der Zukunft vorbeikomme. Da friert’s mich schon ein wenig!
Wird Ingrid jetzt an mich denken, wenn ich selbst so intensiv an sie denke? Habe ich sie verloren, weil ich weiter gegangen bin? Oder war es Gottes Wille, dass ich sie da getroffen habe, wo ich sie gebraucht habe, um meinem Leben eine neue Wendung zu geben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ich hier gerade „meine“ Ingrid gefunden habe. Und das, was da steht, ist dermaßen tiefgreifend und passend für mich, dass mir ganz komisch wird.
Als wenn sie gewusst hätte, dass sie mir noch eine Lektion mit auf den Weg geben kann, wenn sie es noch vor meiner Zeit macht. Schon irre!
Und nun schreibe auch ich das erste Mal in ein Pilgerbuch. Nicht in das aus 2010, sondern in das alte Pilgerbuch. Nur für den Fall, dass sie es tatsächlich war. Und nur für den Fall, dass sie wieder hierher kommen würde und nach ihrem eigenen Eintrag suchen würde.
Nach einem fantastischen Abendessen zu Hause bei Ascension falle ich dann in einen tiefen Schlaf. Es ist „wie im Himmel so auf Erden“.
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