Der Camino Norte von Gontán nach Baamonde
Jakobsweg Tag 28: 42 Kilometer, 350 Höhenmeter. Über Batán und Vilalba,
Vorgehabt habe ich nur die Strecke nach Vilalba. Nicht 42 Kilometer nach Baamonde. Die neuen Pilger stehen aber schon in der Dunkelheit auf und fuchteln mit ihren Stirnlampen herum. Ein heilloses Chaos. Wem gehört was? Jeder scheint seine Ausrüstung zu suchen. Jean-Louis traut seinen Augen nicht, als er auf seine Armbanduhr sieht: 4:30 Uhr. Apropos Armbanduhr. So ein Ding habe ich selbst gar nicht dabei. Völlig überflüssig am Jakobsweg. Als die Lage dann zu laut und hektisch wird, flüchten Jean-Louis und ich ab ins Freie. Ohnehin habe ich heute Nacht furchtbar gefroren. Es hatte höchstens fünf Grad. Und Gehen ist die beste Methode, wieder warm zu werden.
Kurz vor uns ist ein ganzes Rudel aufgebrochen. Aber sie haben gleich den ersten Wegweiser übersehen, an dem wir nun rechts von einer Nebenstraße in die reinste Natur abbiegen. Die anderen sind schon zu weit weg, und mit den Fingern pfeifen will ich auch nicht.
Jakobsweg Beschilderung: Gewohnheit geht über Verstand
In Galicien ist alles anders. Die Jakobsmuscheln zeigen uns nun seit vielen hundert Kilometern den Weg. Und zwar folgendermaßen: Die Strahlen der Jakobsmuschel zeigen die Marschrichtung an. In Asturien sind aber alle Jakobsmuscheln anders herum aufgehängt. Hier betrachtet man seit jeher die stilisierte Muschel in etwa als Komet, der einen Schweif hinter sich herzieht. Die Kometenspitze zeigt die Richtung an. Die Strahlen wiesen nach Hinten. Alles falsch herum.
Über diese Tatsache haben wir natürlich im Reiseführer gelesen. Und wir sind auch schon eine Weile „verkehrt herum“ gegangen. Trotzdem spielt uns die Gewohnheit so manchen Streich und beschert uns immer wieder den falschen Weg.
Schon seit Asturien sehen wir jetzt statt gelber Pfeile immer regelmäßiger richtige Jakobswegsteine. Sie sind aus Stein oder Beton. Einen knappen Meter hoch. Und sie verjüngen sich nach oben hin. Vertieft eingelassen ist die gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund. Ebenfalls neu sind seit Ribadeo die Kilometerangaben nach Santiago. Dieses kleine Kilometerschild aus glänzendem Metall ist weiter unten in den Stein eingelassen. Es zeigt die verbleibenden Kilometer auf den Meter genau (?) in der Form „P.K. 120,003“.
Dichter Nebel hüllt uns in der Früh wie ein Vorhang ein. Alles ist feucht, aber nicht nass. Endlich sind wir wieder auf wunderschönen Naturwegen durch Wälder und Wiesen. Eine Wohltat für die Füße. Feuchter Lehm, nasses Gras, tropfende Blätter. All das ist einfach herrlich. Ich werde hier vollkommen eins mit Mutter Natur. Jean-Louis hat sich erneut an mich geheftet. Ich bin seit Tagen die Zugmaschine. Unsere Schritte sind nun so identisch, dass ich oft denke, das Klappern seiner Jakobsmuschel an seinem Rucksack wäre bei mir. Aber es sind seine Schritte, die so exakt den meinen folgen, als wenn sie miteinander durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen wären. Alles ist heute wie in einem Märchen. Die Wälder fühlen sich fast herbstlich an. Durch den kühlen Nebel scheint nun das erste orangefarbene Tageslicht. Eine Zauberei aus Lichtstrahlen stimmt uns euphorisch.
Camino Norte: Laubwälder, Pilze, Farne, Heidekraut und Moos
All das formt nun eine ganz andere Landschaft, als an der Küste. Die Wege im Wald sind manchmal mit uralten Steinmauern begrenzt. Abseits von Dörfchen, mitten in der Natur auf dem ältesten Jakobsweg: Über weite Strecken hätte es so auch vor vielen Jahrhunderten aussehen können. Das Gefühl, wie durch ein Tor in die Vergangenheit zu blicken hat etwas Magisches für mich. Und wir blicken nicht nur ein wenig hinein. Wir scheinen uns tatsächlich in einer anderen, längst vergangenen Zeit zu befinden. Steinalte Brückchen überqueren kleine, vor sich dahin mäandernde Bachläufe im Wald. Laut Reiseführer Relikte aus dem Mittelalter.
Erst kurz vor Vilalba tauchen wir wieder ein, in die heutige Welt. Weil wir so unsinnig früh losgegangen sind, haben wir die Herberge vor Vilalba bereits schon um halb Zehn Uhr erreicht. Viel zu früh. Unsere Etappe wäre nach nunmehr 20 Kilometern schon zu Ende gewesen. Als wir zu dieser Zeit schon ein Pilgerehepaar vor der Herberge sehen, die auf die Öffnung am Nachmittag zu warten scheinen, erkennen wir die Sinnlosigkeit, hier zu verweilen.
Und wieder einmal meint es der Zufall einfach gut mit mir. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, gehen Jean-Louis und ich erst einmal weiter. Hinein in das kleine Städtchen Vilalba mit etwa 15.000 Einwohnern.
Und wir kommen gerade zur richtigen Zeit.
Am romantischen Stadtplatz beginnen just in diesem Augenblick die Vorbereitungen für ein kleines Volksfest in mittelalterlichen Kostümen. Alles ist noch sehr überschaubar und gerade deshalb so bezaubernd. Drei Mädels, alle etwa um die 20 spielen am Steinboden sitzend mittelalterliche Musik. Alle drei mit Gitarre und in stilvoller Landestracht. Weiße Blusen und rötlich braune, lange Röcke. Vor Ihnen liegt ein gelber Strohhut für eine kleine Spende.
Camino Norte: Der Weg gibt mir Ruhe und Aufmerksamkeit für das Jetzt
Wie oft bin ich früher in München oder Hamburg an Stadtmusikanten einfach vorbei gelaufen. Ungerührt, unbewegt und unbeeindruckt. Mal habe ich etwas in den Hut gegeben, mal nicht. Im Vorbeigehen.
Das erste Mal in meinem Leben bleibe ich hier nun stehen, höre aufmerksam zu und setze mich dann direkt neben die Mädels auf den Steinboden. Klar werde ich etwas in den Hut geben. Aber nicht schon jetzt. Zuerst möchte ich mir Zeit nehmen, der Musik lauschen. Die Musikantinnen respektieren.
Jetzt gerade, in diesem einen Moment spielen sie nur für mich allein. Es bewegt meine Seele. Die fremdartigen mittelalterlichen Klänge dringen tief in mich ein. Gäbe es tatsächlich so etwas, wie ein früheres Leben: Ich hätte geschworen, dass mir diese Musik vertraut war.
Die Mädels spüren, dass ich emotional bewegt bin. Ich bin fröhlich, entspannt und sehr gerührt zugleich. Weil es mir für ein Dankeschön die Kehle zuschnürt, lege ich wortlos und achtsam ein wenig Geld in den Hut. Ich habe feuchte Augen bekommen und verbeuge mich vor den Dreien, bevor ich gehe.
Gefühle gehen über Sprache!
Wieder ist es einfach nur das Glück, das mir dieses schöne Fest beschert. Ich nehme mir noch die Zeit, um im Schatten einer Stoffplane etwas zu essen. Neben mir sitzt eine einheimische Familie aus einem Vorort Vilalbas mit ihrem etwa siebenjährigen Sohn. Er unterhält sich andauern mit mir, was mich allmählich traurig stimmt. Wie wird es jetzt meinen eigenen Kindern gehen? Als ob der Vater meine Gedanken lesen kann, fragt er mich: Hast du auch Kinder?
Zeitgleich laufen mir jetzt ungebremst Tränen aus den Augen. Ja, ich habe Kinder. Und sie sind weit weg von mir. Ich zeige ihm zwei Fotos von meinen beiden Mädels. Spontan steht der spanische Papa auf und umarmt mich ganz fest. Er kann fühlen, wie sehr ich die beiden nun vermisste. Das erste Mal in meinem Leben habe ich richtig Heimweh. Als Jean-Louis zu mir kommt, bringe ich keinen Bissen mehr herunter. Wortlos mache ich mich auf, um meinen Gefühlen davonzurennen. Aber das klappt natürlich nicht.
So laufe ich als weinender Pilger durch die Ausläufer der Stadt und werde von unzähligen Blicken verfolgt. Noch lange vernehme ich den melancholischen Flamenco am Weg, der sich mit meiner Stimmung zu einem absoluten Tief entwickelt. Gehen ist wieder zu einer Waschmaschine der Gedanken geworden. Jean-Louis bleibt in respektvollem Abstand hinter mir. Es ist drückend heiß geworden. Und während meine Hormone wild durch das Blut sausen und mich vorwärts jagen, kann oder will mir Jean-Louis nicht mehr folgen.
Eine Reise in mein Inneres beginnt.
Die Füße laufen von selbst. Immer schneller, noch schneller und noch schneller. Inzwischen ist es erbarmungslos heiß geworden. 28 Tage ohne Pause? Falsch: Das Gehen selbst ist ja zu meiner großen Pause geworden. Die Pause, die ich mir immer gewünscht hatte. Hier ist sie nun. Begleitet von Tränen, die nicht enden wollen. Ich fühle mich frei. Ganz allein und unendlich befreit. Die Meilensteine rattern wie ein Film an mir vorbei. Einer nach dem anderen. Wie ein Tachostand, der in der falschen Richtung lief. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt meine Kinder und meine Frau in den Arm nehmen könnte. Ganz fest und für eine Ewigkeit. Alle drei zusammen.
Jakobsweg: Ich laufe und ich träume.
Alles andere ist nicht mehr wichtig. Es ist noch nicht einmal gegenwärtig. Nur die Familie begleitet mich in meinem Kopf. Immer und immer wieder stelle ich mir diese innige Umarmung vor. Während dessen wird es noch heißer und ich laufe noch schneller.
Jean-Louis hat sich, ohne dass ich es wusste, für die direkte Linie auf der Landstraße entschieden. Auch er hat irgendwie einen Hänger und wird nun wohl vom heißen Teer gebrutzelt.
Auf den letzten fünf Kilometern nach Baamonde sehe ich dann fünf Pilger vor mir. Weit weg. Ihre Umrisse flimmern in der Hitze. Mittlerweile bin ich so schnell, dass ich sie bald schon erreiche und praktisch neben mir stehen lasse. Ich bin so schnell, als wenn ich gerade los gelaufen wäre. 42 Kilometer: Ein Klacks! Den Meilenstein mit der Marke „111,111“ habe ich im Vorbeigehen mit einem Hola begrüßt, ohne dass er es mir für einen kurzen Halt wert gewesen wäre.
Ich laufe mit meinen Kindern um die Wette. Meine Frau kann ich lachen hören. Und dann fällt mir wieder die Umarmung ein. Meine Füße, mein ganzer Körper – alles ist heute eins geworden.
Am Abend sitze ich ganz allein in einer Bar. Mein Tagesplan, hätte es einen solchen gegeben, war dahin. Meine morgige Etappe wären nur 15 Kilometer. Mein zweiter Kaffee. Immer noch allein. Kein Hola, kein Hallo, nichts. Zeit zum Träumen:
Was ist wichtig im Leben? Wohin geht die Reise? Werde ich es schaffen, endlich meine Vergangenheit neu zu bewerten? Kann ich Frieden schließen, mit meinen Gedanken? Ja! Kann ich zufrieden sein? Ja! Und kann ich nun künftig zur Ruhe kommen? Ja – wenn ich damit beginne, in Zukunft auf mein „ich“ zu hören.
Malen, Laufen, den Kindern zuhören. Menschen mit Achtsamkeit begegnen. All das funktionierte nicht mehr in meiner Vergangenheit. Wie oft saß ich zu Hause und hörte nicht zu? Es schien einfach nichts mehr in mich vorzudringen. Jetzt, mit jeder Träne kann ich loslassen.
Jetzt, nach den vielen Kilometern, den tausend Eindrücken, Entbehrungen und Schmerzen bin ich endlich
LEER…
…ein gutes Gefühl!
Aber auch ein sehr zerbrechliches Gefühl. Ich betete in der Bar „Lieber Gott hilf, dass ich mir ein bisschen davon bewahren kann“.
Noch heute träume ich von meiner Radtour an der Côte d‘Azur, die ich mit 13 Jahren gemacht hatte. Warum soll mich nicht auch der Camino für den Rest meines Lebens begleiten?
Klar, meine Mutter findet die Entscheidung meines Vaters, mich diese Tour machen zu lassen noch heute unverantwortlich. Für mich war sie aber der Beweis, dass ein Wort im Leben etwas zählt. Mit 12 Jahren hatte ich eine Lebensmittelvergiftung, die mich über ein halbes Jahr zurückwarf. Ich hatte damals aber auch den Traum von einer Radtour an der der Côte d‘Azur.
Und so kam es, dass ich meine Eltern fragte: Wenn ich die Schulklasse trotzdem schaffen würde, dann dürfte ich dies Radtour machen, oder?
Mein Vater antwortete allerdings ganz überlegt: Du musst die Klasse nicht schaffen. Aber wenn das dein Ziel ist, gut, dann darfst du diese Radtour machen. Ich schaffte die Klasse dann und mein Vater stand zu seinem Wort. Zusammen mit meinem Schulfreund Hansi Steinbichler, damals Anfang 14, ging es dann auf diese große Reise in meinem Leben. Und noch heute weiß ich:
Vertrauen hat man nicht einfach. Man bekommt es zurück, wenn man es in jemanden setzt.
Was waren die Risiken einer solchen Reise? Und wie groß mussten die Ängste meiner Eltern gewesen sein? Für mich war es eines der bedeutendsten Ereignisse meines Lebens. So, wie heute der Jakobsweg.
Hier sitze ich nun, könnte eigentlich stolz auf mich sein. Aber es fließen die Tränen. Ich begreife langsam, dass Loslassen ein schmerzlicher Prozess ist. Wer so wie ich, nur noch an die Vergangenheit und an die Zukunft dachte, wünscht sich nichts sehnlicher, als zurückzufinden in die eigene Gegenwart. Hier bin ich nun angekommen. Und ich weiß ganz genau, ich muss meine Vergangenheit verabschieden. Und ich darf mich auch nicht mehr dazu verführen lassen, dauernd vor einer fiktiven Zukunft Angst zu haben.
Das Vaterunser – eine gute Gebrauchsanleitung!
Das Vater unser sagt es schon: „Unser tägliches Brot gib uns HEUTE“. Da geht es um die Gegenwart, um das Wohl von Jetzt und Hier. Nicht um Gestern, nicht um Morgen.
Und dann ist da noch:
„Sondern erlöse uns von dem Bösen“ – natürlich auch von quälenden Gedanken an die Vergangenheit und den Sorgen über die Zukunft. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“. Lass es zu, lass es einfach geschehen. Eine gute Gebrauchsanleitung!
Ich glaube, heute habe ich meine innere Stimme gehört. Und ich habe ihr zugehört. Ich konnte loslassen von Ängsten und Zweifeln. Ich kann Laufen. Wie viele können das nicht? Sie können dich aber in Gedanken begleiten, dir Kraft geben und dir sagen: Du bist niemals allein. Und du bist weit offen für den Augenblick.
Petra, eine liebe Verwandte von mir, sitzt mit Multipler Sklerose oft im Rollstuhl. Nie, aber auch wirklich nie war ich ihr früher gedanklich verbunden. Hier am Weg hatte ich immer wieder das Gefühl, sie würde an mich denken, mich begleiten. Die Gegenwart wird unendlich groß, wenn die Vergangenheit und die Zukunft ausgeblendet sind.
Meine beruflichen Sorgen sind übrigens niemals bis zum Jakobsweg vorgedrungen. Sie müssen also unendlich unwichtig sein. Heute liegt alles „753 Kilometer“ hinter mir. Und ich bin frei für Neues.
Morgen werde ich weiter laufen. Weiter und weiter. Ich möchte wieder nach Hause.
Fotos von der Jakobswegetappe Camino Norte von Gontán nach Baamonde
Pilgerherberge Baamonde
Pilgerherberge Baamonde
Meilenstein P.K. 111,111 km auf dem Camino Norte
Meilenstein P.K. 111,111 km auf der Etappe 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Meilenstein P.K. 111,111 km auf der Etappe 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Brücke am Jakobsweg
Ein Hund am Jakobsweg am der Kette
Junge Pilger in Villalba (Camino del Norte)
Junge Pilger in Villalba (Camino del Norte)
Christian und Musikantinnen in Villalba
Esel in Villalba
Esel in Villalba
Christian Seebauer 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Spanisches Dorffest in Villalba und Pilger vor einem Grillstand
Pilger Jean Louis im Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Cerveceria Stama Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Spanisches Dorffest in Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Spanisches Dorffest in Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Spanisches Dorffest in Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Spanisches Dorffest in Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Schild Villalba N-634
Villalba 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Schulklasse am Jakobsweg mit Lehrern
Pilze am Jakobsweg
Fingerhut
Brücke am Camino del Norte
Pontevella, P.K. 133 km
Feldweg und Blumen 28 Jakobsweg von GONTÁN NACH BAAMONDE (Camino del Norte)
Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste Camino Norte von Gontán nach Baamonde
Der Camino Norte von Gontán nach Baamonde
Jakobsweg Tag 28: 42 Kilometer, 350 Höhenmeter. Über Batán und Vilalba,
Vorgehabt habe ich nur die Strecke nach Vilalba. Nicht 42 Kilometer nach Baamonde. Die neuen Pilger stehen aber schon in der Dunkelheit auf und fuchteln mit ihren Stirnlampen herum. Ein heilloses Chaos. Wem gehört was? Jeder scheint seine Ausrüstung zu suchen. Jean-Louis traut seinen Augen nicht, als er auf seine Armbanduhr sieht: 4:30 Uhr. Apropos Armbanduhr. So ein Ding habe ich selbst gar nicht dabei. Völlig überflüssig am Jakobsweg. Als die Lage dann zu laut und hektisch wird, flüchten Jean-Louis und ich ab ins Freie. Ohnehin habe ich heute Nacht furchtbar gefroren. Es hatte höchstens fünf Grad. Und Gehen ist die beste Methode, wieder warm zu werden.
Kurz vor uns ist ein ganzes Rudel aufgebrochen. Aber sie haben gleich den ersten Wegweiser übersehen, an dem wir nun rechts von einer Nebenstraße in die reinste Natur abbiegen. Die anderen sind schon zu weit weg, und mit den Fingern pfeifen will ich auch nicht.
Jakobsweg Beschilderung: Gewohnheit geht über Verstand
In Galicien ist alles anders. Die Jakobsmuscheln zeigen uns nun seit vielen hundert Kilometern den Weg. Und zwar folgendermaßen: Die Strahlen der Jakobsmuschel zeigen die Marschrichtung an. In Asturien sind aber alle Jakobsmuscheln anders herum aufgehängt. Hier betrachtet man seit jeher die stilisierte Muschel in etwa als Komet, der einen Schweif hinter sich herzieht. Die Kometenspitze zeigt die Richtung an. Die Strahlen wiesen nach Hinten. Alles falsch herum.
Über diese Tatsache haben wir natürlich im Reiseführer gelesen. Und wir sind auch schon eine Weile „verkehrt herum“ gegangen. Trotzdem spielt uns die Gewohnheit so manchen Streich und beschert uns immer wieder den falschen Weg.
Schon seit Asturien sehen wir jetzt statt gelber Pfeile immer regelmäßiger richtige Jakobswegsteine. Sie sind aus Stein oder Beton. Einen knappen Meter hoch. Und sie verjüngen sich nach oben hin. Vertieft eingelassen ist die gelbe Jakobsmuschel auf blauem Grund. Ebenfalls neu sind seit Ribadeo die Kilometerangaben nach Santiago. Dieses kleine Kilometerschild aus glänzendem Metall ist weiter unten in den Stein eingelassen. Es zeigt die verbleibenden Kilometer auf den Meter genau (?) in der Form „P.K. 120,003“.
Dichter Nebel hüllt uns in der Früh wie ein Vorhang ein. Alles ist feucht, aber nicht nass. Endlich sind wir wieder auf wunderschönen Naturwegen durch Wälder und Wiesen. Eine Wohltat für die Füße. Feuchter Lehm, nasses Gras, tropfende Blätter. All das ist einfach herrlich. Ich werde hier vollkommen eins mit Mutter Natur. Jean-Louis hat sich erneut an mich geheftet. Ich bin seit Tagen die Zugmaschine. Unsere Schritte sind nun so identisch, dass ich oft denke, das Klappern seiner Jakobsmuschel an seinem Rucksack wäre bei mir. Aber es sind seine Schritte, die so exakt den meinen folgen, als wenn sie miteinander durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen wären. Alles ist heute wie in einem Märchen. Die Wälder fühlen sich fast herbstlich an. Durch den kühlen Nebel scheint nun das erste orangefarbene Tageslicht. Eine Zauberei aus Lichtstrahlen stimmt uns euphorisch.
Camino Norte: Laubwälder, Pilze, Farne, Heidekraut und Moos
All das formt nun eine ganz andere Landschaft, als an der Küste. Die Wege im Wald sind manchmal mit uralten Steinmauern begrenzt. Abseits von Dörfchen, mitten in der Natur auf dem ältesten Jakobsweg: Über weite Strecken hätte es so auch vor vielen Jahrhunderten aussehen können. Das Gefühl, wie durch ein Tor in die Vergangenheit zu blicken hat etwas Magisches für mich. Und wir blicken nicht nur ein wenig hinein. Wir scheinen uns tatsächlich in einer anderen, längst vergangenen Zeit zu befinden. Steinalte Brückchen überqueren kleine, vor sich dahin mäandernde Bachläufe im Wald. Laut Reiseführer Relikte aus dem Mittelalter.
Erst kurz vor Vilalba tauchen wir wieder ein, in die heutige Welt. Weil wir so unsinnig früh losgegangen sind, haben wir die Herberge vor Vilalba bereits schon um halb Zehn Uhr erreicht. Viel zu früh. Unsere Etappe wäre nach nunmehr 20 Kilometern schon zu Ende gewesen. Als wir zu dieser Zeit schon ein Pilgerehepaar vor der Herberge sehen, die auf die Öffnung am Nachmittag zu warten scheinen, erkennen wir die Sinnlosigkeit, hier zu verweilen.
Und wieder einmal meint es der Zufall einfach gut mit mir. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, gehen Jean-Louis und ich erst einmal weiter. Hinein in das kleine Städtchen Vilalba mit etwa 15.000 Einwohnern.
Und wir kommen gerade zur richtigen Zeit.
Am romantischen Stadtplatz beginnen just in diesem Augenblick die Vorbereitungen für ein kleines Volksfest in mittelalterlichen Kostümen. Alles ist noch sehr überschaubar und gerade deshalb so bezaubernd. Drei Mädels, alle etwa um die 20 spielen am Steinboden sitzend mittelalterliche Musik. Alle drei mit Gitarre und in stilvoller Landestracht. Weiße Blusen und rötlich braune, lange Röcke. Vor Ihnen liegt ein gelber Strohhut für eine kleine Spende.
Camino Norte: Der Weg gibt mir Ruhe und Aufmerksamkeit für das Jetzt
Wie oft bin ich früher in München oder Hamburg an Stadtmusikanten einfach vorbei gelaufen. Ungerührt, unbewegt und unbeeindruckt. Mal habe ich etwas in den Hut gegeben, mal nicht. Im Vorbeigehen.
Das erste Mal in meinem Leben bleibe ich hier nun stehen, höre aufmerksam zu und setze mich dann direkt neben die Mädels auf den Steinboden. Klar werde ich etwas in den Hut geben. Aber nicht schon jetzt. Zuerst möchte ich mir Zeit nehmen, der Musik lauschen. Die Musikantinnen respektieren.
Jetzt gerade, in diesem einen Moment spielen sie nur für mich allein. Es bewegt meine Seele. Die fremdartigen mittelalterlichen Klänge dringen tief in mich ein. Gäbe es tatsächlich so etwas, wie ein früheres Leben: Ich hätte geschworen, dass mir diese Musik vertraut war.
Die Mädels spüren, dass ich emotional bewegt bin. Ich bin fröhlich, entspannt und sehr gerührt zugleich. Weil es mir für ein Dankeschön die Kehle zuschnürt, lege ich wortlos und achtsam ein wenig Geld in den Hut. Ich habe feuchte Augen bekommen und verbeuge mich vor den Dreien, bevor ich gehe.
Gefühle gehen über Sprache!
Wieder ist es einfach nur das Glück, das mir dieses schöne Fest beschert. Ich nehme mir noch die Zeit, um im Schatten einer Stoffplane etwas zu essen. Neben mir sitzt eine einheimische Familie aus einem Vorort Vilalbas mit ihrem etwa siebenjährigen Sohn. Er unterhält sich andauern mit mir, was mich allmählich traurig stimmt. Wie wird es jetzt meinen eigenen Kindern gehen? Als ob der Vater meine Gedanken lesen kann, fragt er mich: Hast du auch Kinder?
Zeitgleich laufen mir jetzt ungebremst Tränen aus den Augen. Ja, ich habe Kinder. Und sie sind weit weg von mir. Ich zeige ihm zwei Fotos von meinen beiden Mädels. Spontan steht der spanische Papa auf und umarmt mich ganz fest. Er kann fühlen, wie sehr ich die beiden nun vermisste. Das erste Mal in meinem Leben habe ich richtig Heimweh. Als Jean-Louis zu mir kommt, bringe ich keinen Bissen mehr herunter. Wortlos mache ich mich auf, um meinen Gefühlen davonzurennen. Aber das klappt natürlich nicht.
So laufe ich als weinender Pilger durch die Ausläufer der Stadt und werde von unzähligen Blicken verfolgt. Noch lange vernehme ich den melancholischen Flamenco am Weg, der sich mit meiner Stimmung zu einem absoluten Tief entwickelt. Gehen ist wieder zu einer Waschmaschine der Gedanken geworden. Jean-Louis bleibt in respektvollem Abstand hinter mir. Es ist drückend heiß geworden. Und während meine Hormone wild durch das Blut sausen und mich vorwärts jagen, kann oder will mir Jean-Louis nicht mehr folgen.
Eine Reise in mein Inneres beginnt.
Die Füße laufen von selbst. Immer schneller, noch schneller und noch schneller. Inzwischen ist es erbarmungslos heiß geworden. 28 Tage ohne Pause? Falsch: Das Gehen selbst ist ja zu meiner großen Pause geworden. Die Pause, die ich mir immer gewünscht hatte. Hier ist sie nun. Begleitet von Tränen, die nicht enden wollen. Ich fühle mich frei. Ganz allein und unendlich befreit. Die Meilensteine rattern wie ein Film an mir vorbei. Einer nach dem anderen. Wie ein Tachostand, der in der falschen Richtung lief. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt meine Kinder und meine Frau in den Arm nehmen könnte. Ganz fest und für eine Ewigkeit. Alle drei zusammen.
Jakobsweg: Ich laufe und ich träume.
Alles andere ist nicht mehr wichtig. Es ist noch nicht einmal gegenwärtig. Nur die Familie begleitet mich in meinem Kopf. Immer und immer wieder stelle ich mir diese innige Umarmung vor. Während dessen wird es noch heißer und ich laufe noch schneller.
Jean-Louis hat sich, ohne dass ich es wusste, für die direkte Linie auf der Landstraße entschieden. Auch er hat irgendwie einen Hänger und wird nun wohl vom heißen Teer gebrutzelt.
Auf den letzten fünf Kilometern nach Baamonde sehe ich dann fünf Pilger vor mir. Weit weg. Ihre Umrisse flimmern in der Hitze. Mittlerweile bin ich so schnell, dass ich sie bald schon erreiche und praktisch neben mir stehen lasse. Ich bin so schnell, als wenn ich gerade los gelaufen wäre. 42 Kilometer: Ein Klacks! Den Meilenstein mit der Marke „111,111“ habe ich im Vorbeigehen mit einem Hola begrüßt, ohne dass er es mir für einen kurzen Halt wert gewesen wäre.
Ich laufe mit meinen Kindern um die Wette. Meine Frau kann ich lachen hören. Und dann fällt mir wieder die Umarmung ein. Meine Füße, mein ganzer Körper – alles ist heute eins geworden.
Am Abend sitze ich ganz allein in einer Bar. Mein Tagesplan, hätte es einen solchen gegeben, war dahin. Meine morgige Etappe wären nur 15 Kilometer. Mein zweiter Kaffee. Immer noch allein. Kein Hola, kein Hallo, nichts. Zeit zum Träumen:
Was ist wichtig im Leben? Wohin geht die Reise? Werde ich es schaffen, endlich meine Vergangenheit neu zu bewerten? Kann ich Frieden schließen, mit meinen Gedanken? Ja! Kann ich zufrieden sein? Ja! Und kann ich nun künftig zur Ruhe kommen? Ja – wenn ich damit beginne, in Zukunft auf mein „ich“ zu hören.
Malen, Laufen, den Kindern zuhören. Menschen mit Achtsamkeit begegnen. All das funktionierte nicht mehr in meiner Vergangenheit. Wie oft saß ich zu Hause und hörte nicht zu? Es schien einfach nichts mehr in mich vorzudringen. Jetzt, mit jeder Träne kann ich loslassen.
Jetzt, nach den vielen Kilometern, den tausend Eindrücken, Entbehrungen und Schmerzen bin ich endlich
LEER...
...ein gutes Gefühl!
Aber auch ein sehr zerbrechliches Gefühl. Ich betete in der Bar „Lieber Gott hilf, dass ich mir ein bisschen davon bewahren kann“.
Noch heute träume ich von meiner Radtour an der Côte d‘Azur, die ich mit 13 Jahren gemacht hatte. Warum soll mich nicht auch der Camino für den Rest meines Lebens begleiten?
Klar, meine Mutter findet die Entscheidung meines Vaters, mich diese Tour machen zu lassen noch heute unverantwortlich. Für mich war sie aber der Beweis, dass ein Wort im Leben etwas zählt. Mit 12 Jahren hatte ich eine Lebensmittelvergiftung, die mich über ein halbes Jahr zurückwarf. Ich hatte damals aber auch den Traum von einer Radtour an der der Côte d‘Azur.
Und so kam es, dass ich meine Eltern fragte: Wenn ich die Schulklasse trotzdem schaffen würde, dann dürfte ich dies Radtour machen, oder?
Mein Vater antwortete allerdings ganz überlegt: Du musst die Klasse nicht schaffen. Aber wenn das dein Ziel ist, gut, dann darfst du diese Radtour machen. Ich schaffte die Klasse dann und mein Vater stand zu seinem Wort. Zusammen mit meinem Schulfreund Hansi Steinbichler, damals Anfang 14, ging es dann auf diese große Reise in meinem Leben. Und noch heute weiß ich:
Vertrauen hat man nicht einfach. Man bekommt es zurück, wenn man es in jemanden setzt.
Was waren die Risiken einer solchen Reise? Und wie groß mussten die Ängste meiner Eltern gewesen sein? Für mich war es eines der bedeutendsten Ereignisse meines Lebens. So, wie heute der Jakobsweg.
Hier sitze ich nun, könnte eigentlich stolz auf mich sein. Aber es fließen die Tränen. Ich begreife langsam, dass Loslassen ein schmerzlicher Prozess ist. Wer so wie ich, nur noch an die Vergangenheit und an die Zukunft dachte, wünscht sich nichts sehnlicher, als zurückzufinden in die eigene Gegenwart. Hier bin ich nun angekommen. Und ich weiß ganz genau, ich muss meine Vergangenheit verabschieden. Und ich darf mich auch nicht mehr dazu verführen lassen, dauernd vor einer fiktiven Zukunft Angst zu haben.
Das Vaterunser – eine gute Gebrauchsanleitung!
Das Vater unser sagt es schon: „Unser tägliches Brot gib uns HEUTE“. Da geht es um die Gegenwart, um das Wohl von Jetzt und Hier. Nicht um Gestern, nicht um Morgen.
Und dann ist da noch:
„Sondern erlöse uns von dem Bösen“ – natürlich auch von quälenden Gedanken an die Vergangenheit und den Sorgen über die Zukunft. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“. Lass es zu, lass es einfach geschehen. Eine gute Gebrauchsanleitung!
Ich glaube, heute habe ich meine innere Stimme gehört. Und ich habe ihr zugehört. Ich konnte loslassen von Ängsten und Zweifeln. Ich kann Laufen. Wie viele können das nicht? Sie können dich aber in Gedanken begleiten, dir Kraft geben und dir sagen: Du bist niemals allein. Und du bist weit offen für den Augenblick.
Petra, eine liebe Verwandte von mir, sitzt mit Multipler Sklerose oft im Rollstuhl. Nie, aber auch wirklich nie war ich ihr früher gedanklich verbunden. Hier am Weg hatte ich immer wieder das Gefühl, sie würde an mich denken, mich begleiten. Die Gegenwart wird unendlich groß, wenn die Vergangenheit und die Zukunft ausgeblendet sind.
Meine beruflichen Sorgen sind übrigens niemals bis zum Jakobsweg vorgedrungen. Sie müssen also unendlich unwichtig sein. Heute liegt alles „753 Kilometer“ hinter mir. Und ich bin frei für Neues.
Morgen werde ich weiter laufen. Weiter und weiter. Ich möchte wieder nach Hause.
Fotos von der Jakobswegetappe Camino Norte von Gontán nach Baamonde
Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis
Camino Norte von Gontán nach Baamonde
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Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg
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Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3
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1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag
Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:
Camino de la Costa, Camino del Norte