Jakobsweg an der Küste von Piñera nach Tapia
Jakobsweg an der Küste von Piñera nach Tapia
Tag 24: 24 km und wenige Höhenmeter (250 hm). Über Navia, Torce, La Caridad.
Bei strömenden Regen wagen wir uns schließlich alle gleichzeitig vor die Türe des alten Schulgebäudes „Escuella Nacional“. Es liegt unmittelbar an der Landstraße. Mariette ist die erste, die sich mutig vor die Türe traut und genau in diesem Moment braust ein Holzsattelschlepper an ihr vorbei und durchspült sie wie ein Hochdruck-Dampfstrahler.
Unsere Schadenfreude hielt sich in Grenzen, denn jeder wusste nun, dass ihn in den nächsten Minuten das gleiche Schicksal ereilen würde. Und so ist es natürlich auch.
Die ersten beiden Kilometer auf der Landstraße ist es dann auch vollkommen egal, was wir anhaben. Jeder Lastwagen gibt uns die volle Packung. Die Stimmung ist trotzdem gut. Während die anderen praktisch alle ihre dicke Kleidung opferten, bin ich mit kurzer Hose und T-Shirt unterwegs.
Jakosbweg: Eine spirituelle Dimension
Gestern haben wir uns noch ziemlich real unterhalten. Mit echten Schallwellen, die auf der Leitplanke entlang geritten sind. Heute kommt eine neue, eine fast spirituelle Dimension hinzu.
Jean-Louis, Mariette und ich haben immer öfter Gedankenübertragung. Ständig haben wir die gleichen Einfälle. Ganz ohne Sprache. Aber gibt es Gedankenübertragung eigentlich?
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Zumindest auszuschließen ist sie nicht. Und hier spreche ich als Diplomingenieur und als spirituelle Spinner zugleich. Klar ist doch: Unser Gehirn verarbeitet elektrische Signale.
Und unser Bewusstsein bekommt einen Teil dieses elektromagnetischen Geschehens mit. Es macht sich also etwas bewusst. Es fängt also einen Teil dieses elektromagnetischen Geschehens wieder ein und führt ihn uns vor Augen.
Dass im Gehirn dabei Leistungen vergleichbar einer Glühbirne erzeugt werden, ist erstaunlich, aber längst bewiesen. Bis zu 60 Watt (!) können das sein. Und dass diese elektromagnetischen Wellen an der Hirnwand natürlich nicht halt machen, ist ebenso klar. Schließlich besteht unsere Gehirndecke nicht aus Blei und ist auch kein Faradäischer Käfig.
Ob das, was wir unser Bewusstsein nennen nun „innen“ sitzt – oder nur mal angenommen – „außen“ sitzen würde, wäre im Prinzip also egal.
In entsprechenden Röhren kann man mit bildgebenden Verfahren dem elektrischen Treiben im Gehirn sogar unmittelbar zusehen. Von außen! Wenn unser Gehirn auch Röhren durchströmt und dessen Detektoren sie aufzeichnen können, warum sollte unser Denken nicht auch fremde Gehirne durchströmen? Die Physik hat dem nichts entgegenzusetzen! So unglaublich sich das alles anhören mag: Bis hierher ist alles real.
Stellen wir uns nun einmal einen geostationären Fernseh-Satelliten vor. Er ist klein und ewig weit entfernt. 35.786 Kilometer, um genau zu sein. Die elektrische Sendeleistung liegt dabei in einer Größenordnung von lächerlichen 60 Watt. Kommt uns da was bekannt vor?
Die Sendeleistung entspricht exakt der unseres Gehirns. Trotzdem können wir die Signale des Satelliten locker noch aus unglaublichen Sechsunddreißigtausend Kilometern empfangen. Das geht vor allem deshalb, weil es auf die exakt gleiche Wellenlänge ankommt. Die Wellenlänge muss stimmen, dass wir das Signal auswerten können. Und sei es noch so klein. Wir müssen also nur wissen, auf welcher genauen Frequenz wir hinhören müssen.
Und hier schließt sich dann der Kreis. Es fällt mir der Spruch von der „gleichen Wellenlänge“ bei zwei Menschen ein. Kann sich auch ein fremdes Bewusstsein einen Teil unseres Geschehens „zu eigen“ machen? Theoretisch durchaus möglich!
Das wäre doch mal der Stoff für eine echte Doktorarbeit. Selbst geschrieben natürlich.
Aber noch einmal zurück zum Ort des Geschehens. Zum Gehirn. Denn hier gibt es ja so etwas wie die erst 1995 entdeckten Spiegelneuronen. Das sind Nervenzellen, deren einziger Zweck darin besteht, Gefühlsregungen des anderen nachzuahmen und damit für sich selbst „spürbar“ zu machen.
Es gibt also durchaus solche Mechanismen in unseren Köpfen, die sich mit Gedanken, Gefühlen und womöglich dem Bewusstseinszustand des anderen beschäftigen. Und während die Erde vor nicht allzu langer Zeit noch eine Scheibe war, könnten auch künftige Generationen von etwas weniger engstirnigen Wissenschaftlern (Beobachtern) noch großartige Prinzipien des Lebens entdecken.
Einsicht als Pilger: Im richtigen Leben ist es zu engstirnig!
Ein bisschen was von meiner hier ausufernden Philosophie werde ich mit nach Hause nehmen. Und dann, wenn meine Tochter wieder einmal eine schlechte Note schreibt, weil das alte Schulwissen nicht mehr ab to date ist, meiner Tochter erklären. Schließlich ist vieles, wofür ich selbst einmal schlecht benotet wurde heute längst schon überholt!
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Und da fällt mir wieder diese engstirnige Welt von zu Hause ein. Engstirnig und dumm! Meine Tochter Selina hat in einer Prüfung den Begriff Recycling mit „Wiederverwenden“ erklärt. Das war falsch. Null Punkte! Gefragt war die Erklärung „Wiederverwertung“.
Nun stand allerdings im Duden tatsächlich „Wiederverwendung“. Und auch die Abfallentsorgungsverordnung spricht von „Wiederverwendung“.
Den Duden unter dem Arm habe ich also bei der Klassenlehrerin mit viel Charme für einen Punkt gekämpft. Die Erfahrung, die ich dabei machen musste, war erschütternd: Tatsächlich hatte die Lehrerin nie vor, einen Punkt für etwas Richtiges zu geben, sondern hat sich wohl viele Stunden damit beschäftigt, „Beweismaterial“ aus dem Lehrplan gegen meine Tochter vorzulegen.
Dann war da noch der Punkt mit den Joghurtbechern. Die richtige Antwort wäre gewesen, dass sie in die gelbe Tonne gehören. Plastik, klar! Aber ist es nicht so, dass sich gerade in der letzten Zeit alle Joghurtbecher aus Plastik ganz still verabschiedet haben und mittlerweile samt und sonders zu 90% aus Papier bestehen? Und das gehört doch in die blaue Tonne!
Obwohl ich das komplette Rewe-Sortiment zur Sprechstunde mitgenommen habe, blieb die Lehrerin stur.
Es ist wohl wichtiger, das Alte zu verteidigen, als sich neuen und durchaus richtigen Gedanken zu öffnen. Aber was soll so aus unseren Kindern werden?
Wenn man schon all den anderen Kindern für die nach aktuellem Stand definitiv falsche Antwort einen Punkt gibt, dann könnte man zumindest der einzig richtigen Antwort ebenfalls einen Punkt geben. Weil genau das aber nicht geschieht und weil niemand das ändern kann verbleibt uns nur eine einzige Möglichkeit: Jede Idee und jeder Gedanke unserer Kinder ist ein Segen. Und wir sollten ihn nicht abtun, sondern mit unseren Kindern gemeinsam fantasieren, ob es nicht doch in fernen Zeiten genau so kommen könnte. Was spricht schon dagegen?
Bitte halte mich nicht für verrückt! Warum?
Ich bin mit Mariette gerade genau in dieser herrlichen Philosophiestunde und Mariette steuert erstaunliche Sichtweisen bei. Immer wieder mit dem Vermerk „aber bitte halte mich jetzt nicht für verrückt!“
Krass! Ist es nicht wunderbar, seinen Gedanken endlich einmal wieder freien Lauf zu lassen? Sind wir in unserer Welt schon so festgefahren, dass wir uns für ein wenig Fantasie schon entschuldigen müssen? Fast scheint es so!
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Nachdem ich ungefähr zum fünften Mal die Gegenfrage gestellt habe „warum soll ich dich für verrückt halten?“, kommt Mariette plötzlich ins Stocken.
„Stimmt eigentlich“, meint sie und beendet den Satz mit „aber du weiß ja…“.
„Ja, ich weiß“. Und nun mache ich eine Pause, halte sie mit beiden Armen vom Laufen ab, gehe zwei Schritte zurück und schreie sie ziemlich laut an „Nein! Was soll ich wissen?“.
Das du verrückt bist? Oder das du eine ganz liebe Seele bist? Oder das du endlich bei dir selbst angekommen bist? Oder das du heute endlich einmal richtig gelacht hast? Nein, ich weiß es nicht. Was bitte soll ich wissen?
Vor was hast du Angst?
Vor was bitteschön hast du Angst? Das ich dich auslache? Das ich dir nicht zuhöre? Das ich dich nicht mag?
Wütend knalle ich meinen Rucksack auf den Boden, nehme sie dann aber in den Arm. Ihre Tochter Corinna ist mit Jean-Louis ein paar Meter weiter gegangen.
Gerade waren wir noch bei Gedankenübertragung, bei Satelliten und beim Schulsystem und jetzt bricht gerade ein menschliches System zusammen und erzählt von der Vergangenheit.
Mariette habe ich bisher noch nie wirklich kennen gelernt. Trotzdem verbindet uns der Jakobsweg. Das ist das Großartige an diesem Pfad. Wir können über Dinge reden, die man sonst selbst Freunden nicht ohne weiteres anvertrauen würde. Genauso kann man aber auch schweigen und ganz einfach einmal menschliche Nähe und echte Achtsamkeit spüren. Nichts Verfälschtes. Nichts Oberflächliches. Denn immer dann, wenn man nicht mag, kann man sich ja „bon camino“ wünschen. So brutal das scheinen mag. Es ist ehrlich. Es ist aufrichtig und ich möchte mir diesen „bon camino“ für mein späteres Leben behalten.
Mariette hat sich selbst wohl noch nie als äußerst attraktive, intelligente und liebenswerte Frau gesehen. Als etwas ganz Besonderes eben. Aber das sollte sie! Und das wünsche ich ihr. Warum sollte man ein Leben lang die Vergangenheit mit sich schleppen? Gut, sie ist ja ein Teil von dir, aber man muss sie auch nicht jede Sekunde gedanklich aufrufen.
Selbstmitleid ist die Verlängerung vergangenen Leids!
Sofort ist Mariette wieder ganz die starke Frau. Alles vergessen und vorbei. Passt schon (sagt meine Frau ja immer dann, wenn gar nichts passt). Ich denke, Mariette braucht noch ein paar Kilometer, damit sie bei sich selbst ankommt.
Nun gehe ich wieder allein. Und ich weiß nicht, ob mein Benehmen gerade eben richtig war. Ich denke jetzt gerade an Ingrid. Wo wird sie jetzt sein? Wie wird es ihr gehen? Denkt sie auch hin und wieder an mich? Jetzt gerade?
Ich bin ein wenig erstaunt, dass weder Jean-Louis, noch Mariette und Corinna mich nach meinen wilden Theorien für verrückt erklären. Ganz im Gegenteil. Viele Pilger habe ich getroffen, die fest davon überzeugt sind, dass es noch weit mehr geben muss, als dass, was wir hören und sehen können.
Es ist schon komisch: Wenn man unmittelbar im wahrsten Sinne des Wortes „mit den Füßen fest am Boden steht“, dann heben die Gedanken ab und suchen eine Antwort auf all das neue Unbekannte, was uns umgibt.
Im Auto treten wir nur auf Pedale, ohne den Boden zu berühren. Wir steuern nach dem Bildschirm und verlieren den Kontakt zu dem, was da draußen ist. Wir telefonieren. Und dann fragen wir uns nach einer Weile, wo bin ich, wie kam ich hierher.
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Allerdings gibt es auch am Jakobsweg das merkwürdige Phänomen, dass man die Stationen vergisst. Ich zweifelte hin und wieder echt an meinem Verstand, als ich nicht mehr wusste, wie die Orte gestern hießen. Und dass, obwohl ich im Schneckentempo zu Fuß unterwegs war und mir nichts zu merken brauchte. Doch genau das ist es: Sich endlich einmal nichts merken zu müssen.
Erst als ich dieses Phänomen bei allen anderen Pilgern ebenfalls bemerkte, ist es mir nun egal, wie die Herberge gestern hieß. Und wie der Ort, wo wir heute hingehen werden gleich noch mal heißt. Egal. Pilgererfahrung. Jedem geht es genauso. Jeder muss da mal schnell im Pilgerführer nachblättern.
Wenn es aber allen so geht, dann bedeutet das doch nichts anderes, als das diese Ortsnamen für unser Sein vollkommen irrelevant sind. Was alle gemeinsam berichten, das ist die exakte Erinnerung an Abschnitte in der Natur, an Gerüche und an Farben. Schon merkwürdig, was uns da dieser Jakobsweg alles vor Augen führt.
Ich hole Jean-Louis wieder ein und Mariette wandert nun mit ihrer Tochter weiter.
Unterwegs gibt es heute in Tapia für sieben Euro ein so üppiges Pilgermenü, dass Jean-Louis und ich ein riesiges zweites Schnitzel samt Pommes als Proviant mitnehmen. Wir waren bereits nach der Vorspeise Pasta und Salat, dazu Weißbrot und Rotwein dermaßen geplättet, das wir befürchtet haben, nicht mehr gehen zu können.
Immer wieder querte der Weg nach dem Mittagessen die viel befahrene Küstenstraße. Und immer wieder war die Küstenstraße der Weg. Hier wird augenblicklich viel getan, um neue Wegstrecken zu erschließen. Auch am Camino Francés gibt es Teerstrecken. Aber nicht ganz so viel. Das ist die Kehrseite der schönen Medaille des Küstenweges.
Bis Mittag hätte ich mir heute eine dicke Wintermütze gewünscht. Bei maximal 8 Grad und eisigem Atlantikwind war das gehen ziemlich frostig. Doch jetzt, nach unserem Pilgermenü kommt auch die Sonne heraus und es wird zum Laufen „fantastique, merveilleux, magnifique!“
Jakobsweg: Wertloses Zeug – weg damit!
Eine Zeitlang laufe ich nun wieder allein. Und jetzt probiere ich mal meinen MP3-Player aus, auf den ich mir einen Spanischkurs geladen habe. Doch jetzt nach 24 Tagen Stille ist das ein Ding des Unmöglichen. Es ist mir schlichtweg unmöglich, einen Rhythmus zu halten und in den Ohren spanisch zu hören. Obwohl ich zu Hause gerne mit Musik im Ohr joggen gehe, werde ich hier schon nach kurzer Zeit richtig aggressiv. Weg damit.
Und eine wertvolle Erfahrung reicher! Das braucht es nicht am Jakobsweg. Ich lerne die verschiedenen Sprachen auch so. Ich muss nur hinhören und mitreden. Letzteres fällt mir leicht. Ersteres eher schwer.
Die letzten Kilometer zur Herberge in Tapia sind überwältigend. Schon eine ganze Weile gehe ich auf einem kleinen Sträßchen am Meer entlang. Und ich muss es nochmal sagen: In eineinhalb Stunden bin ich hier keinem einzigen Auto begegnet. So etwas gibt es bei uns zu Hause nicht.
Die letzten Stunden hat sich die Sonne energisch durchgesetzt. Es ist sogar noch richtig heiß geworden. Die Landschaft ist flach, grün und friedlich. Ich kann in alle Richtungen weit sehen. Am meisten fasziniert mich aber wieder der unglaublich schöne Blick auf den dunkelblauen Atlantik. Er ist vielleicht 500 Meter entfernt, aber ich kann die salzige Luft riechen.
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Wiesen und Klippen am Küstenweg sind wieder meine Begleiter.
Und ganz da vorne, noch vor den Toren des Dorfs liegt sie: Die traumhafte Herberge! Ganz allein steht sie auf einer Klippe mitten im Grün und direkt am Abgrund. Gut 20 Meter über dem Meer. Die Bucht gehört nur ihr ganz allein. Es ist alles wie in einem Märchen.
Ich werde langsamer. Die letzten Meter bis zur Haustüre möchte ich noch genießen. Durchatmen. Ich bin gerührt vor lauter Dankbarkeit. Jeden Tag darf ich solche Traumstätten betreten und wenn sie es einmal nicht sind, dann mache ich mir eben eine daraus!
Aber dieses Häuschen direkt an den Klippen schlägt wieder einmal alles, was ich in meinem Leben gesehen habe. Kurz vor der Herberge begrüßt mich eine steinerne Jakobssäule, hinter der eine stachelige Aloe emporwächst. Dahinter ist eine Klippe, die von der Landseite her mit dichtem Grün bewachsen ist, um dann abrupt in den Ozean abzustürzen. Der Fels ist hier rötlich braun. Dort, wo der Fels in den Ozean mündet, säumt ein weißes Band mit Gischt den Übergang. Auch etwas dahinter ragen noch ein paar geschichtete Felsen aus dem Wasser.
Doch dann beherrscht nur noch die Physik den Horizont. Der erste Zentimeter, den ich als Meeresband ansehe, dürfte einen guten Kilometer betragen. Vielleicht auch zwei. Der nächste Zentimeter oberhalb könnte schon zwanzig Kilometer haben. Und das hellblaue Band am Horizont dürfte ziemlich weit weg sein. Später in der Herberge berechnen wir mit Stift und Zettel sowie einem Handy als Taschenrechner, dass man von hier oben aus etwa 152 Kilometer weit sehen kann, bevor die Erdkrümmung ein Objekt verschluckt. Mit anwesend ist ein deutscher Mathelehrer, der mit einem uralten Fahrrad als Pilger unterwegs ist.
Direkt hinter der Herberge ist ein kleiner Holzzaun, der die Steilflanke zum Meer hin absichert. Durchaus berechtigt. Aber eben auch durchlässig und daher eher eine psychologische als eine physikalische Grenze.
Camino de la Costa: Es riecht nach Seetang
Gut zehn Meter weiter führen ein paar steile Steinstufen die Klippen hinunter. Es ist gerade Ebbe. Die kleine menschenleere Bucht ist kieselig und riecht nach Seetang. Ich bin völlig allein hier und wate im seichten Wasser herum. Traumhaft. Dann lege ich mich auf einen flachen Felsen, ziehe mein T-Shirt aus und döse langsam ein. Ich träume schon wieder von einer Seefahrt. Irgendwie scheint es mich in meinem Unterbewusstsein magisch raus zu ziehen.
Im Halbschlaf höre ich dann ein paar fröhliche Stimmen. Es sind Bernhard, Mariette und Corinna.
Am Nachmittag sitzen wir alle gemeinsam in den letzten Sonnenstrahlen vor der Herberge am Boden und zaubern eine gemeinsame Brotzeit.
Jeder hat für sich ein wenig im Dörfchen eingekauft und heute wird geteilt. Mariette und Corinna haben richtig gutes Schwarzbrot gefunden. Und Bernhard, der Österreicher aus Salzburg, steuert Rotwein bei. Unser Mathe-Fahrradpilger aus San Esteban gesellt sich mit Obst und Tomaten dazu. Er ist den letzten Tagen mit dem Fahrrad nicht weiter gekommen als wir zu Fuß. Das konnte er kaum glauben und doch war es so.
Brote im Freien. Dazu Essiggurken, Zwiebeln, frischen Salat. Unter uns braust der Atlantik, der sich gerade einmal von seiner versöhnlichen Seite zeigt. Meine Zutaten zum Abendmahl sind Weißbrot, Thunfisch und drei große dunkelrote Pfirsiche. Und auch ich habe eine große Flasche Rotwein dabei. Dazu ein paar Kekse und Joghurt. Den tausche ich ein gegen einen spanischen Caramello-Pudding.
Auf der anderen Ortsseite von Tapia gibt es, so habe ich es beim Einkaufen gesehen, ein paar edle Ferienvillen für die Schönen und Reichen. Wer weiß, was so etwas kostet. Wir hingegen haben eine ganze (!) Bucht. Nur für uns. Und eine Herberge, die an keinem schöneren Platz der Welt hätte stehen können.
Unser Abendessen reicht bis zum Sonnenuntergang.
Und dann sind plötzlich auch alle frisch gewaschenen Kleidungsstücke weg!
War eigentlich klar. Wir haben alle unsere Sachen gewaschen und ohne Befestigung über den Holzzaun gehängt. Der Wind hat dann sein Übriges getan und nun haben wir Flut!
Das meiste konnten wir retten. Ein paar Handtücher und das verwaschene Bob Marley T-Shirt von Bernhard schwimmen nun in den unendlichen Weiten des Atlantiks herum.
Bernhard nimmt es locker. Schließlich hat er sogar eine ewig schwere Lederjacke bis hierher mitgeschleppt. Nur für den Fall, dass er irgendwo in eine Disco gehen möchte. Jetzt lacht er darüber! Er lässt mich seinen Rucksack in die Hand nehmen und ich denke, er ist doppelt so schwer wie meiner.
Bernhard meint, er werde dem Nächstbesten am Weg seine Lederjacke schenken, wenn im Gegenzug ein kühles Bier drin ist.
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Leider ist in der Herberge der Toaster in Schall und Rauch aufgegangen und es stinkt nun ein wenig nach Rauch und Plastik. Dennoch: Ein herrlicher Ort zum Einschlafen mit Wellenrauschen im Hintergrund.