Der Küstenweg von Cadavedo nach Piñera
Von Cadavedo nach Piñera
Tag 23: 33 km, ca. 850 Höhenmeter. Über Canero, Almuña und Luarca.
Habe gut geschlafen. Keine Schimmelspore hat mich in der Nacht gestört. Bei weit geöffnetem Fenster direkt neben meinem Kopf habe ich mich sogar in der Nacht richtig erholt.
Es nieselt draußen leicht, trotzdem kommt die Sonne ein wenig durch. Heute nehme ich mit Jean-Louis ein ausgiebiges Frühstück. Es gibt sogar heißen Pulverkaffe und wir leeren zu zweit ein ganzes Glas Aprikosenmarmelade. Da stecken sicher genügend Kalorien für die heutige Etappe drin!
Möchtest Du der Redaktion einen Kaffee ausgeben?
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Mariette – eine attraktive Frau!
Von der Herberge weg wandern wir ein gutes Stück mit Mariette und Corinna. Mariette ist eine attraktive, durch und durch sportliche Natur. Aber sie hatte ihr Leben lang große Rückenprobleme. Am Jakobsweg wurde es für sie dann langsam besser. Diese Erfahrung hatte sie schon einmal gemacht. War es eine Last aus der Kindheit, die sie noch immer mit sich herumtrug? War es der Druck der Eltern, der Druck des Sportgymnasiums?
War es das ständige Trainieren für den Eiskunstlauf und die verlorene Kindheit? Mariette hasste den Eiskunstlauf und schien noch heute darunter zu leiden. Ihrer Tochter wolle sie so etwas nie antun. Aber kann man zwanzig Jahre später immer noch eine verletzte Seele haben?
Mit jedem Schritt blüht Mariette auf. Sie freut sich über jede Blume, die ich ihr pflücke. Und zu jeder Blume habe ich irgendeine Geschichte parat. Sie wünschte sich, dass der Weg für sie in Santiago nicht enden würde, sondern dass es nun für immer so weitergehen würde.
Heute haben wir während des Gehens sehr viel gelacht. Erst mittags trennen sich die Wege.
Unser Buschtelefon funkt!
Leider hat auch diese Etappe wieder ein längeres Stück Küstenstraße parat. Jean-Louis geht mehrere hundert Meter hinter mir. Doch wir haben ja einen interessanten Weg der Kommunikation gefunden. Mit seinem Pilgerstab klopft Jean-Louis auf die Leitplanke.
Obwohl ich ihn oft gar nicht mehr sehen kann, kann ich die Klopfzeichen doch gut vernehmen. Ich muss wieder lachen über seinen Einfallsreichtum und gebe immer wieder Klopfzeichen zurück.
Die Leitplanke wird zu unserem Buschtelefon: Ja ich kann Dich hören!
„Tick, tack tack tack“ höre ich gerade. Und ich antworte mit „Tick, tack tack tack – tick tick“. So wie: Botschaft bestätigt!
Und dann fängt Jean-Louis plötzlich damit an, den Takt von bekannten Liedern zu klopfen. Ich muss lachen. Ich bin fasziniert. Denn sobald er aufhört, klopfe ich den Rest des Taktes weiter.
Jean-Louis klopft gerade:
„Daa di di dit, daa di di dit.“
Richtig! Es ist „Hier kommt die Braut“, aus Richard Wagners Lohengrin, die auch in keinem amerikanischen Spielfilm fehlen darf, wenn geheiratet wird. Ich antworte ihm mit einem Steinklopfen:
„daa di di di daa, daa di di dit“
Für eine Sekunde ist es nun still. Aber jetzt kommt ein ganz schneller Trommelwirbel „ding ding ding ding ding“, will heißen:
Antwort von der Leitplanke
Bravo, richtig geraten!
Und nun möchte ich mal probieren, ob es das auch auf Französisch gibt:
„Di di di di daa daa,
di di di di daa,
di di di di daa,
und prompt kommt die Antwort per Leitplanke:
„di di di di daa daa,
„di di di di daa daa!
Mit meinem Stein hämmere nun ich lauten Beifall auf die Leitplanke. Von Jean-Louis ist weit und breit keine Spur zu sehen. Aber er hört mich!
Die französische Version von „Alle meine Entchen“ heißt übrigens „Tous mes petits canards“, wie ich dann später erfahre.
Gut, ein paar Lieder habe ich nicht erkannt, aber es ist schon erstaunlich, dass wir beide viele Lieder erkannt haben und den Rhythmus weiter klopfen konnten.
Wir haben nun auch herausgefunden, dass sich die Leitplanke im unteren Bereich anders anhört, als im oberen Bereich.
So vergeht die Zeit mit immer neuen Liedern im Kopf. Sogar unseren Gehrhythmus haben wir auf diese Art ganz intuitiv synchronisiert. Schon eine tolle Sache, auf was man beim Gehen alles kommt!
Auf schönem Terrain
Ein Höhepunkt ist für mich der Abstieg nach Luarca. Natürlich ohne Leitplanke, denn wir sind wieder zusammen und auf schönem Terrain. Das kleine Fischerdörfchen mit gut 5.000 Einwohnern zwängt sich wieder in eine enge Bucht, die wie fast immer gleichzeitig auch die Mündung eines romantischen Flüsschens ist. Dieses Mal heißt der Wasserlauf Rio Negro.
Auf alten Steinstufen geht es die letzten 50 Höhenmeter wieder spektakulär bergab durch malerische Gassen. Unten angekommen überquere ich auf einer kleinen Brücke den Rio Negro. Dieses Dörfchen würde wirklich zum Verweilen einladen. Die Temperaturen sind gerade angenehm, vielleicht so um die 18 Grad und kräftige Sonnenstrahlen verzaubern den kleinen Ortskern mit einem wunderbaren Licht in ein Idyll.
Möchtest Du der Redaktion einen Kaffee ausgeben?
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Trotzdem gehe ich weiter. Allerdings nicht ohne diese Atmosphäre in mich einzusaugen und jeden Schritt zu genießen!
Gleich geht es wieder bergauf, umgeben von herrlicher Landschaft. Unterwegs möchte ich wieder eine Kirche besuchen, die sich mir quasi in den Weg stellt. Leider ist sie verschlossen. Dennoch ist der schattige Vorplatz so schön, dass ich ein wenig bleibe. Aus dem Brunnen sprudelt frisches Wasser. Es steht Trinkwasser darauf.
Beim Weitergehen sehe ich in weiter Ferne den Ozean. Unzählige Luftschichten haben sich als feine Streifen in verschiedenen Blautönen übereinander gelegt. Weil der Ozean selbst ebenfalls die verschiedenen Streifen abbildet kann man nicht mehr unterscheiden, was noch Luft und was schon Wasser ist.
Heute kommt mir der Weg sehr lang vor. Er ist über weite Strecken recht flach und man kann ebenso weit nach vorne sehen. Doch das, was man sieht, das dauert! Erst kurz vor dem Ziel geht es wieder ein wenig in die leicht hügelige Landschaft. Es wird abwechslungsreicher, steiniger und unterhaltsamer. Wenn man im Alleingang überhaupt von Unterhaltung sprechen kann. Doch, kann man! Und die Zeit vergeht wieder viel schneller für mich, wenn es Kurven und „Geheimnisse“ gibt.
Einschreiben muss man sich für die Herberge von Piñera ein paar Kilometer zuvor in einem kleinen Laden. Hier werde ich auf eine Tasse Kaffee eingeladen und lerne ein sehr nettes deutsch-spanisches Ehepaar kennen.
Beide wohnten früher in Deutschland. Sie war Flugbegleiterin und sie ist immer noch jung geblieben. Ihren Ruhestand verbringen sie nun hier in Spanien, in seiner früheren Heimat. Sie geben mir ihre Telefonnummern, nur für den Fall, dass ich oder einer der anderen Pilger mal Hilfe benötige.
Dann geht es weiter zur Herberge. Auch Piñera ist eine außerordentlich schöne Herberge. Sie befindet sich in einem alten Schulgebäude. Noch einmal gehe ich ein paar Kilometer zurück, um mir frische Lebensmittel zu besorgen.
Meine Tochter weint
Und dann wird es für mich depressiv.
Das erste Mal muss meine Tochter Selina heute am Telefon weinen. Und das tut mir sehr weh. Wie von jetzt auf gleich falle ich in ein sehr tiefes Loch und fühle mich schuldig.
Ich gehe deshalb noch einmal allein spazieren. Und ich möchte jetzt auch wirklich ganz für mich sein. In einem solchen Moment möchte man am liebsten den nächsten Flieger besteigen und die Tochter in den Arm nehmen.
Vor der Abfahrt habe ich mit meiner Frau darüber gesprochen, was wäre, wenn in dieser Zeit jemand aus der näheren Umgebung sterben würde. Immerhin ist diese Möglichkeit ja ganz real. Wir waren uns darüber einig, dass ich in diesem Falle nicht heimgefahren wäre. Aber ich weiß natürlich nicht, was ich wirklich getan hätte.
Einer der heutigen Gäste in der Herberge wäre wohl für Viele interessant gewesen: Ein bekannter spanischer Nationalspieler, der wegen Sehnenproblemen nicht zur WM aufgestellt wurde. Also machte er sich mit seinem Hund Romeo auf den Jakobsweg. Niemand störte sich daran, dass Romeo in seinem Bett schlafen durfte.
Irgendwie gehören wir hier alle zusammen. Schließlich musste auch Romeo mit eigenem Gepäck jede Etappe meistern. Ich habe aber den Eindruck, dass ihm die Wanderschaft mit seinem Herrchen gut gefiel.
Meine Frau Conny meinte heute am Telefon: Mach doch einmal ein paar Tage Pause. Sehe dir etwas an. In mein Tagebuch notiere ich daraufhin:
Möchtest Du der Redaktion einen Kaffee ausgeben?
Alles, was mehr ist, als eine Tasse Kaffee (ideelle 2 Euro), geben wir zu 100% an einen gemeinnützigen Pilgerverein! Ansonsten freuen wir uns über Deine Anerkennung für gute und kostenfreie Berichterstattung.
Das Gehen selbst ist die große Pause.
Die Pause vor dem Denken und die Pause vor dem Grübeln. Das schönste am Jakobsweg ist, dass ich jeden Tag aufstehen und einfach wieder losgehen darf. Die Freiheit, immer weiter zu gehen, das ist meine Pause. Und so freue ich mich schon auf morgen und das immer gleiche Ritual: Aufstehen, einen bon camino wünschen und losgehen.
Was ich meiner Frau aber bestimmt nie verraten werde: In Sachen Rucksack bin ich im Laufe der Zeit zu einem wahren Ordnungsfanaten geworden. Ich weiß nun blind im Dunklen, wo genau sich was befindet. Jeder Gegenstand hat exakt seinen festen Platz und ist immer sofort auffindbar. So verkürzt sich die Routine des Ein- und Auspackens enorm. Auch mitten unter dem Gehen hilft mir diese neu gefundene Ordnung für schnelle Kleidungswechsel. Zu Hause werde ich freilich so unordentlich bleiben, wie ich bin!