20 AVILÉS - SAN ESTEBAN DE PRAVIA (Camino de la Costa)

Camino von Avilés nach San Esteban

Der Jakobsweg von Avilés nach San Esteban de Pravia

20 AVILÉS - SAN ESTEBAN DE PRAVIA (Camino de la Costa)

Als Pilger kommt man hin und wieder dem Glück sehr nahe

Tag 20: 24 Kilometer über San Cristóbal, El Pontón, Santiago del Monte, Soto del Barco. (300 Höhenmeter)…

…und wieder zurück auf „Los“. Aber alles schön der Reihe nach.

Altes Soldatenrezept: In die Schuhe pinkeln. Mit diesem Mythos kann ich gleich aufräumen. Es hilft rein gar nichts. Schon nach wenigen Kilometern habe ich starke Schmerzen an den Zehen. Mit dem Taschenmesser vergrößere ich in Salinas in einem Verzweiflungsakt den Innenraum der Schuhe. Auf Socken verzichtete ich. Meine großen und kleinen Zehen habe ich dick mit Tape überklebt. Ein Pessimist würde natürlich sagen: Ich hab’s ja kommen sehen. Aber nichts davon denke ich. Ich laufe weiter.

Es wird aber nicht besser, sondern gleich noch viel ungemütlicher in den Schuhen. Jean-Louis läuft schneller und trennt sich von mir. Ich möchte nur möglichst schnell in San Esteban ankommen, um noch einmal Schuhe zu kaufen.

Deshalb bleibe ich Direttissima auf der Landstraße, während Jean-Louis auf einen schönen Pfad abbiegt.

Direttissima? Wieder einmal spielt mir mein nicht vorhandener Orientierungssinn einen bösen Streich. Obwohl ich zu Anfangs auch hier auf der Straße ein paar gelbe Pfeile entdeckt habe, finde ich nun keinen mehr.

Dafür wird die Straße langsam breiter und breiter. Vorbei am Flughafen. Flughafen??? Super, ich habe es geschafft, mich zum Flughafen Aeropuerto Asturias zu verlaufen! Welch ein Wahnsinn.

Nun stehe ich direkt vor den Toren des Aeropuerto. Vor mir eine große rote Schranke. Ein paar Hundert Meter weiter könnte ich einchecken! Nein. Hier habe ich nun wirklich nichts verloren. Wie zum Hohn heult nun eine Flugzeugturbine voll los. Will sie mich auslachen? Will sie mir zeigen, dass ich hier als Fußgänger nichts verloren habe?

Nichts wie weg von hier. Jetzt kommt eine Leitplanke und dann eine Doppelte. Ich bin am Autobahnzubringer zur E70 und jetzt bekomme ich es echt mit der Angst zu tun. „Achtung, Achtung, ein Pilger humpelt auf der Autobahn!“. So eine Meldung und der Gewahrsam durch die Polizei hätten mir noch gefehlt.

Doch wie runter kommen? Schon seit einer ganzen Weile bin ich durch einen etwa zwei Meter hohen Stahlzaun gefangen. Innerhalb! Dahinter Dornenhecken und Gestrüpp, soweit das Auge reicht. Plötzlich bekomme ich eine Heidenangst. Ich muss da unbedingt runter, sofort! Wie ein ausbrechender Gefängnisinsasse klettere ich samt Gepäck über den Zaun. Und natürlich falle ich auf der anderen Seite Kopf über unsanft in die wehrhafte Botanik.

Aufgepeitscht von Adrenalin ist mir jetzt alles egal. Ich spüre das Blut an meinen Händen und Beinen nicht wirklich. Aber die Kratzer sehen echt übel aus. Mit Schürfwunden geht es ab durch das stechende Buschwerk. So schnell es geht.

Doch so schnell geht es gar nicht. Denn gerade hat sich der Träger meines Rucksacks im Unterholz verfangen und bringt mich zu Fall. Aber gleich so heftig, als wenn mich mehrere Expander gleichzeitig zurück katapultieren würden.

Bloß kein Dornenkranz!

Normalerweise habe ich ja ein sehr entspanntes Verhältnis zu allem, was man in der Natur so vorfindet. Aber musste es ausgerechnet ein stark verästelter Schlehdorn sein, der mich gerade umgenietet hat? Ich liege auf einigen Zweigen und spüre die fiesen Dornen. Auch unter meinen Armen haben sich stachelige Zweige verhakelt. Der Rucksack hängt vollkommen fest. Nur mein Gesicht ist ungeschoren davon gekommen. Aber Hallo, das ist doch schon mal etwas.

Und ich trage ja auch kein Kreuz auf meinem Rücken und keinen Dornenkranz, der womöglich aus dem gleichen fiesen Schlehdorn gemacht wurde. Kein Grund also, zu jammern.

Nach der Durchquerung eines kleinen Sumpfes erreiche ich dann ziemlich verdreckt einen Feldweg. Reflexartig schüttelt es mich durch, ganz so wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kommt. Schon komisch, dass ich als Mensch auch solche Reflexe habe. Das ist mir bis jetzt so noch nie aufgefallen.

Es ist echt wie kleines Wunder, dass ich nun partout vor einem gelben Pfeil stehe. Ich muss lachen. Ich bin zurück auf dem Jakobsweg. Was für ein gutes Gefühl!

Der lehmige Pfad zeigt sich von seiner schönsten Seite und ich beschließe, ein wenig Barfuß zu laufen. Meine Sandalen nehme ich in die rechte Hand. Ein herrliches Gefühl!

20 AVILÉS - SAN ESTEBAN DE PRAVIA (Camino de la Costa)

Über sieben Brücken musst du gehen… oder waren es mehr am Jakobsweg?

Jakobsweg – Wieder zusammen!

Als ich um eine Abbiegung komme, sehe ich einen guten Kilometer weit. Und ich erblicke Jean-Louis in der Ferne. Zumindest hoffe ich, dass er es ist!

Ich werde also schneller und gleichzeitig stellt sich ein wunderbar entspanntes und glückseliges Gefühl ein. Nach einer guten halben Stunde habe ich bis auf ein paar Hundert Meter aufgeholt. Und als wenn Jean-Louis mich hätte spüren können, dreht er sich plötzlich um. Er hat mich gesehen!

Sofort nimmt Jean-Louis mich in seine Arme. Genau das Richtige! Etwas Mitgefühl kann ich jetzt gut gebrauchen. Jean-Louis nimmt seinen Rucksack ab und stellt ihn am Rand des Pfades auf den Boden. Danach setzt er sich einfach so im Schneidersitz mitten auf den Weg. Ein paar Sekunden stehe ich selbst noch herum. Dann setze auch ich mich wortlos mitten auf den Weg. Mit meinen Händen berühre ich den Staub und lasse ihn durch meine Finger rieseln.

Jean-Louis hat mir keine einzige Frage gestellt. Er hat mich angesehen und nun scheint er zu meditieren. Irgendwie erschleicht mich das Gefühl, dass er mich gerade in seine Gebete aufgenommen hat und für mich meditiert.

Ich sitze ganz still daneben und dann beginne ich ebenfalls, mit meinem Gott zu sprechen. Für eine gute Weile sitzen wir Gedanken versunken so am Boden. Jeder mit seinem eigenen Gott. Und doch gut, dass jeder von uns einen solchen hat!

Dann steht Jean-Louis auf, reibt sich den Staub von seinen Händen und meint recht still: Vamos? Ich lass ihm ein wenig Vorsprung, bevor ich auch selbst losgehe.

In der Zwischenzeit laufe ich wieder in meinen Sandalen. Dieses Mal mit zerschundenen Füßen. Das kurze Gastspiel in meinen neuen Schuhen hat tiefe Spuren hinterlassen.

Immer wieder kratzt es irgendwo und ich entferne mir wieder ein paar Dornen. So wie es aussieht, müssen wohl auch Brombeerzweige mit im Spiel gewesen sein.

Angekommen in Soto del Barco, kurz vor San Esteban ziehe ich Bilanz: Füße blutig. Dem Highway entkommen. So ungefähr wäre das Fazit des Tages. Doch der Tag ist Gott sei Dank noch nicht zu Ende.

Zurück auf Los?

Durch Soto del Barco verläuft die einspurige Küsteneisenbahn. Und Jean-Louis sagt: Ich komme mit! Wir kaufen jetzt in Avilés ordentliche Schuhe, sonst kannst du hier gleich aufhören.

Habe ich das eben richtig verstanden? Wir sind heute von Avilés nach San Esteban gelaufen. Jetzt würden wir mit dem Zug von Soto del Barco zurück fahren nach Avilés, um schon wieder Schuhe zu kaufen. Und dann wieder hierher zurück? Und dann würden wir auch noch zu später Stunde einen freien Schlafplatz bekommen? Alles sehr spanisch!

Doch mir bleibt gar nichts anderes übrig. Meine Pilgerehre hätte mir bis heute jeden Meter mit der Eisenbahn verboten. Jetzt aber heißt es ja, zurückfahren! Unter diesen Umständen könnte eine Eisenbahnfahrt vertretbar sein, denn sie würde mich ja anschließend nur wieder hierher bringen, wohin ich bereits mit eigenen Füßen gepilgert bin.

Weil genau im Augenblick des Überlegens der Zug einfährt, steige ich also mit Jean-Louis und einer sehr netten Spanierin ein.

Sofort erzählt uns die Einheimische, dass sie Pilger in der Regel immer nur in der Gegenrichtung im Zug antreffe und noch nie welche gesehen hätte, die zurück fahren. Ich erzähle ihr von meinem kleinen Schuhproblem und sie nickt. Im langsamen Tempo schlängelt sich die Bahn über wackelige Schienen und uralte enge Tunnels zurück nach Avilés. Dann steigen wir aus und machen uns auf die Suche nach einem Schuhgeschäft. Schon bei meiner ersten Ankunft in Avilés habe ich am Stadtrand einen großen Industriepark gesehen. Und dem werde ich nun mal einen Besuch abstatten.

20 AVILÉS - SAN ESTEBAN DE PRAVIA (Camino de la Costa)

Küstenlandschaft zwischen AVILÉS – SAN ESTEBAN DE PRAVIA (Camino de la Costa)

Buddhistischer Optimismus am Jakobsweg

Der Buddhistische Optimismus von Jean-Louis ist grandios. Es muss diese Paar Schuhe geben. Mittlerweile allerdings in Größe 47,5. Und tatsächlich: Wir werden fündig. Sofort bei der Anprobe weiß ich: Der ist es. Er passt wie angegossen, ist leicht und angenehm. Er muss nur bis Santiago halten!

Die spanischen Verkäuferinnen haben bei meinem Antlitz wirklich gekichert. Macht nichts. Es wird ja dort auch nicht jeden Tag ein geschundener Pilger zusammen mit einem buddhistischen Coach auftauchen und einen roten Trekkingschuh in 47 ½ kaufen. Ich lasse den beiden also gerne den Spaß. Und die Schuhe behalte ich gleich an. Etwas anderes glaube ich, hätten die beiden Damen von mir auch gar nicht erwartet. Etwas unbeholfen wollen sie mir aber beharrlich den Schuhkarton mitgeben. Und nun muss ich selbst richtig lachen! Nein, den Schuhkarton lasse ich hier. Ich begründe das mit meiner Nationalität und sage: Yo soy un alemán!

Am Abend sind wir dann wieder zurück in Soto del Barco und eine gute Stunde später in der Pilgerherberge von San Esteban.

Als da waren:

Meine Schuhe am Jakobsweg

    • Meine weißen Turnschuhe, die ich heimschickte.
    • Mein Birkenstock-Imitat, welches ich wegwarf.
    • Meine Billig-Trekkingschuhe, die ich wegen größer gewordener Füße ebenfalls heimschickte.
    • Dann meine Sandalen, die mich schon weit über 200 Kilometer brachten, am Ende aber eine Entzündung am linken Fuß provozierten.
    • Und da war… das Wunder von Santillana, neue Schuhe als „Druckverband“. Verstorben in Avilés. Hier ruhen sie in Frieden.
    • Dann abermals neue Schuhe aus Avilés, trotz Reinpinkeln zu klein geblieben. Und nun:
    • Meine ersten richtig guten Trekkingschuhe, Größe 47,5, rot, bequem.

Meine neuen Schuhe passen nicht

Meine alten Schuhe mit zerbrochener Sohle

Trennen und weitergeben – das gehört beim Camino de Santiago dazu

Dem Herbergsvater in San Esteban gebe ich das Vorgängermodell. Falls mal ein Pilger Schuhe benötigt.

Hier warten sie nun, in Ewigkeit Amen? Oder hat sie bald schon wieder jemand an und ist froh darüber? Ich werde es wohl nie erfahren. Ich hoffe zumindest, dass er niemals dieses Buch lesen wird und so erfahren könnte, dass ich aus Verzweiflung in die Schuhe… Aber lassen wir das lieber! Es sind gute Schuhe. Wenn sie passen.

Die Herberge in San Esteban de Pravia liegt malerisch direkt am Ende des schönen und gut geschützten Hafenbeckens. Der Herbergsvater führt uns hoch zu unserem Zimmer im ersten Stock. Alles ist tipptopp sauber und einladend. Wir sind wieder einmal allein im Zimmer. Mit insgesamt fünf Pilgern ist die Herberge auch nicht wirklich überfüllt.

Das Sprossenfenster ist gleich am Kopfende meines Stockbettes mit direktem Meerblick. Luftlinie höchstens zwanzig Meter. Fantastisch! Ich genieße den algigen Geruch vom Meer und träume vor mich hin, während Jean-Louis eine ausgiebige Dusche nimmt.

Danach treiben uns der Hunger und die Neugier auf das herrliche Hafenviertel noch einmal hinaus.

Im Antiquo Molino gibt es zum Abschluss dieser Etappe noch eine wahrhaftige Essens-Sensation. Das etwas edlere Speiselokal hat kein Pilgermenü im Angebot. Aber für den jungen Chef ist es spontan eine Ehrensache, uns Pilger preiswert zu verpflegen.

Kurzerhand serviert er uns das bunte Menü des spanischen Nachbartisches und erklärt uns jeden einzelnen Gang ausführlich mit einer ganzen Geschichte dazu. Er erzählt uns auch, dass San Esteban de Pravia ungefähr 600 Einwohner habe und dass hier ganz gewiss kein Pilger verhungern müsse. Unser Nachbartisch ist ein wenig erheitert, welche Unmengen wir beide vertilgen, denn es wurde schon ein paar Mal nachserviert. Sie deuten uns mit Handzeichen „Wandern“ und zeigen dann auf den Magen und lachen. Muy bien.

Ich freue mich schon auf morgen. Ich weiß: Dieses Mal werden die Schuhe bis nach Santiago de Compostela halten!


    Christian Seebauer am Jakobsweg

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    Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste Camino von Avilés nach San Esteban Der Jakobsweg von Avilés nach San Esteban de Pravia Tag 20: 24 Kilometer über San Cristóbal, El Pontón, Santiago del Monte, Soto del Barco. (300 Höhenmeter)… …und wieder zurück auf „Los“. Aber alles schön der Reihe nach. Altes Soldatenrezept: In die Schuhe pinkeln. Mit diesem Mythos kann ich gleich aufräumen. Es hilft rein gar nichts. Schon nach wenigen Kilometern habe ich starke Schmerzen an den Zehen. Mit dem Taschenmesser vergrößere ich in Salinas in einem Verzweiflungsakt den Innenraum der Schuhe. Auf Socken verzichtete ich. Meine großen und kleinen Zehen habe ich dick mit Tape überklebt. Ein Pessimist würde natürlich sagen: Ich hab’s ja kommen sehen. Aber nichts davon denke ich. Ich laufe weiter. Es wird aber nicht besser, sondern gleich noch viel ungemütlicher in den Schuhen. Jean-Louis läuft schneller und trennt sich von mir. Ich möchte nur möglichst schnell in San Esteban ankommen, um noch einmal Schuhe zu kaufen. Deshalb bleibe ich Direttissima auf der Landstraße, während Jean-Louis auf einen schönen Pfad abbiegt. Direttissima? Wieder einmal spielt mir mein nicht vorhandener Orientierungssinn einen bösen Streich. Obwohl ich zu Anfangs auch hier auf der Straße ein paar gelbe Pfeile entdeckt habe, finde ich nun keinen mehr. Dafür wird die Straße langsam breiter und breiter. Vorbei am Flughafen. Flughafen??? Super, ich habe es geschafft, mich zum Flughafen Aeropuerto Asturias zu verlaufen! Welch ein Wahnsinn. Nun stehe ich direkt vor den Toren des Aeropuerto. Vor mir eine große rote Schranke. Ein paar Hundert Meter weiter könnte ich einchecken! Nein. Hier habe ich nun wirklich nichts verloren. Wie zum Hohn heult nun eine Flugzeugturbine voll los. Will sie mich auslachen? Will sie mir zeigen, dass ich hier als Fußgänger nichts verloren habe? Nichts wie weg von hier. Jetzt kommt eine Leitplanke und dann eine Doppelte. Ich bin am Autobahnzubringer zur E70 und jetzt bekomme ich es echt mit der Angst zu tun. „Achtung, Achtung, ein Pilger humpelt auf der Autobahn!“. So eine Meldung und der Gewahrsam durch die Polizei hätten mir noch gefehlt. Doch wie runter kommen? Schon seit einer ganzen Weile bin ich durch einen etwa zwei Meter hohen Stahlzaun gefangen. Innerhalb! Dahinter Dornenhecken und Gestrüpp, soweit das Auge reicht. Plötzlich bekomme ich eine Heidenangst. Ich muss da unbedingt runter, sofort! Wie ein ausbrechender Gefängnisinsasse klettere ich samt Gepäck über den Zaun. Und natürlich falle ich auf der anderen Seite Kopf über unsanft in die wehrhafte Botanik. Aufgepeitscht von Adrenalin ist mir jetzt alles egal. Ich spüre das Blut an meinen Händen und Beinen nicht wirklich. Aber die Kratzer sehen echt übel aus. Mit Schürfwunden geht es ab durch das stechende Buschwerk. So schnell es geht. Doch so schnell geht es gar nicht. Denn gerade hat sich der Träger meines Rucksacks im Unterholz verfangen und bringt mich zu Fall. Aber gleich so heftig, als wenn mich mehrere Expander gleichzeitig zurück katapultieren würden. Bloß kein Dornenkranz! Normalerweise habe ich ja ein sehr entspanntes Verhältnis zu allem, was man in der Natur so vorfindet. Aber musste es ausgerechnet ein stark verästelter Schlehdorn sein, der mich gerade umgenietet hat? Ich liege auf einigen Zweigen und spüre die fiesen Dornen. Auch unter meinen Armen haben sich stachelige Zweige verhakelt. Der Rucksack hängt vollkommen fest. Nur mein Gesicht ist ungeschoren davon gekommen. Aber Hallo, das ist doch schon mal etwas. Und ich trage ja auch kein Kreuz auf meinem Rücken und keinen Dornenkranz, der womöglich aus dem gleichen fiesen Schlehdorn gemacht wurde. Kein Grund also, zu jammern. Nach der Durchquerung eines kleinen Sumpfes erreiche ich dann ziemlich verdreckt einen Feldweg. Reflexartig schüttelt es mich durch, ganz so wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kommt. Schon komisch, dass ich als Mensch auch solche Reflexe habe. Das ist mir bis jetzt so noch nie aufgefallen. Es ist echt wie kleines Wunder, dass ich nun partout vor einem gelben Pfeil stehe. Ich muss lachen. Ich bin zurück auf dem Jakobsweg. Was für ein gutes Gefühl! Der lehmige Pfad zeigt sich von seiner schönsten Seite und ich beschließe, ein wenig Barfuß zu laufen. Meine Sandalen nehme ich in die rechte Hand. Ein herrliches Gefühl! Jakobsweg - Wieder zusammen! Als ich um eine Abbiegung komme, sehe ich einen guten Kilometer weit. Und ich erblicke Jean-Louis in der Ferne. Zumindest hoffe ich, dass er es ist! Ich werde also schneller und gleichzeitig stellt sich ein wunderbar entspanntes und glückseliges Gefühl ein. Nach einer guten halben Stunde habe ich bis auf ein paar Hundert Meter aufgeholt. Und als wenn Jean-Louis mich hätte spüren können, dreht er sich plötzlich um. Er hat mich gesehen! Sofort nimmt Jean-Louis mich in seine Arme. Genau das Richtige! Etwas Mitgefühl kann ich jetzt gut gebrauchen. Jean-Louis nimmt seinen Rucksack ab und stellt ihn am Rand des Pfades auf den Boden. Danach setzt er sich einfach so im Schneidersitz mitten auf den Weg. Ein paar Sekunden stehe ich selbst noch herum. Dann setze auch ich mich wortlos mitten auf den Weg. Mit meinen Händen berühre ich den Staub und lasse ihn durch meine Finger rieseln. Jean-Louis hat mir keine einzige Frage gestellt. Er hat mich angesehen und nun scheint er zu meditieren. Irgendwie erschleicht mich das Gefühl, dass er mich gerade in seine Gebete aufgenommen hat und für mich meditiert. Ich sitze ganz still daneben und dann beginne ich ebenfalls, mit meinem Gott zu sprechen. Für eine gute Weile sitzen wir Gedanken versunken so am Boden. Jeder mit seinem eigenen Gott. Und doch gut, dass jeder von uns einen solchen hat! Dann steht Jean-Louis auf, reibt sich den Staub von seinen Händen und meint recht still: Vamos? Ich lass ihm ein wenig Vorsprung, bevor ich auch selbst losgehe. In der Zwischenzeit laufe ich wieder in meinen Sandalen. Dieses Mal mit zerschundenen Füßen. Das kurze Gastspiel in meinen neuen Schuhen hat tiefe Spuren hinterlassen. Immer wieder kratzt es irgendwo und ich entferne mir wieder ein paar Dornen. So wie es aussieht, müssen wohl auch Brombeerzweige mit im Spiel gewesen sein. Angekommen in Soto del Barco, kurz vor San Esteban ziehe ich Bilanz: Füße blutig. Dem Highway entkommen. So ungefähr wäre das Fazit des Tages. Doch der Tag ist Gott sei Dank noch nicht zu Ende. Zurück auf Los? Durch Soto del Barco verläuft die einspurige Küsteneisenbahn. Und Jean-Louis sagt: Ich komme mit! Wir kaufen jetzt in Avilés ordentliche Schuhe, sonst kannst du hier gleich aufhören. Habe ich das eben richtig verstanden? Wir sind heute von Avilés nach San Esteban gelaufen. Jetzt würden wir mit dem Zug von Soto del Barco zurück fahren nach Avilés, um schon wieder Schuhe zu kaufen. Und dann wieder hierher zurück? Und dann würden wir auch noch zu später Stunde einen freien Schlafplatz bekommen? Alles sehr spanisch! Doch mir bleibt gar nichts anderes übrig. Meine Pilgerehre hätte mir bis heute jeden Meter mit der Eisenbahn verboten. Jetzt aber heißt es ja, zurückfahren! Unter diesen Umständen könnte eine Eisenbahnfahrt vertretbar sein, denn sie würde mich ja anschließend nur wieder hierher bringen, wohin ich bereits mit eigenen Füßen gepilgert bin. Weil genau im Augenblick des Überlegens der Zug einfährt, steige ich also mit Jean-Louis und einer sehr netten Spanierin ein. Sofort erzählt uns die Einheimische, dass sie Pilger in der Regel immer nur in der Gegenrichtung im Zug antreffe und noch nie welche gesehen hätte, die zurück fahren. Ich erzähle ihr von meinem kleinen Schuhproblem und sie nickt. Im langsamen Tempo schlängelt sich die Bahn über wackelige Schienen und uralte enge Tunnels zurück nach Avilés. Dann steigen wir aus und machen uns auf die Suche nach einem Schuhgeschäft. Schon bei meiner ersten Ankunft in Avilés habe ich am Stadtrand einen großen Industriepark gesehen. Und dem werde ich nun mal einen Besuch abstatten. Buddhistischer Optimismus am Jakobsweg Der Buddhistische Optimismus von Jean-Louis ist grandios. Es muss diese Paar Schuhe geben. Mittlerweile allerdings in Größe 47,5. Und tatsächlich: Wir werden fündig. Sofort bei der Anprobe weiß ich: Der ist es. Er passt wie angegossen, ist leicht und angenehm. Er muss nur bis Santiago halten! Die spanischen Verkäuferinnen haben bei meinem Antlitz wirklich gekichert. Macht nichts. Es wird ja dort auch nicht jeden Tag ein geschundener Pilger zusammen mit einem buddhistischen Coach auftauchen und einen roten Trekkingschuh in 47 ½ kaufen. Ich lasse den beiden also gerne den Spaß. Und die Schuhe behalte ich gleich an. Etwas anderes glaube ich, hätten die beiden Damen von mir auch gar nicht erwartet. Etwas unbeholfen wollen sie mir aber beharrlich den Schuhkarton mitgeben. Und nun muss ich selbst richtig lachen! Nein, den Schuhkarton lasse ich hier. Ich begründe das mit meiner Nationalität und sage: Yo soy un alemán! Am Abend sind wir dann wieder zurück in Soto del Barco und eine gute Stunde später in der Pilgerherberge von San Esteban. Als da waren: Meine Schuhe am Jakobsweg Meine weißen Turnschuhe, die ich heimschickte. Mein Birkenstock-Imitat, welches ich wegwarf. Meine Billig-Trekkingschuhe, die ich wegen größer gewordener Füße ebenfalls heimschickte. Dann meine Sandalen, die mich schon weit über 200 Kilometer brachten, am Ende aber eine Entzündung am linken Fuß provozierten. Und da war... das Wunder von Santillana, neue Schuhe als „Druckverband“. Verstorben in Avilés. Hier ruhen sie in Frieden. Dann abermals neue Schuhe aus Avilés, trotz Reinpinkeln zu klein geblieben. Und nun: Meine ersten richtig guten Trekkingschuhe, Größe 47,5, rot, bequem. Trennen und weitergeben - das gehört beim Camino de Santiago dazu Dem Herbergsvater in San Esteban gebe ich das Vorgängermodell. Falls mal ein Pilger Schuhe benötigt. Hier warten sie nun, in Ewigkeit Amen? Oder hat sie bald schon wieder jemand an und ist froh darüber? Ich werde es wohl nie erfahren. Ich hoffe zumindest, dass er niemals dieses Buch lesen wird und so erfahren könnte, dass ich aus Verzweiflung in die Schuhe... Aber lassen wir das lieber! Es sind gute Schuhe. Wenn sie passen. Die Herberge in San Esteban de Pravia liegt malerisch direkt am Ende des schönen und gut geschützten Hafenbeckens. Der Herbergsvater führt uns hoch zu unserem Zimmer im ersten Stock. Alles ist tipptopp sauber und einladend. Wir sind wieder einmal allein im Zimmer. Mit insgesamt fünf Pilgern ist die Herberge auch nicht wirklich überfüllt. Das Sprossenfenster ist gleich am Kopfende meines Stockbettes mit direktem Meerblick. Luftlinie höchstens zwanzig Meter. Fantastisch! Ich genieße den algigen Geruch vom Meer und träume vor mich hin, während Jean-Louis eine ausgiebige Dusche nimmt. Danach treiben uns der Hunger und die Neugier auf das herrliche Hafenviertel noch einmal hinaus. Im Antiquo Molino gibt es zum Abschluss dieser Etappe noch eine wahrhaftige Essens-Sensation. Das etwas edlere Speiselokal hat kein Pilgermenü im Angebot. Aber für den jungen Chef ist es spontan eine Ehrensache, uns Pilger preiswert zu verpflegen. Kurzerhand serviert er uns das bunte Menü des spanischen Nachbartisches und erklärt uns jeden einzelnen Gang ausführlich mit einer ganzen Geschichte dazu. Er erzählt uns auch, dass San Esteban de Pravia ungefähr 600 Einwohner habe und dass hier ganz gewiss kein Pilger verhungern müsse. Unser Nachbartisch ist ein wenig erheitert, welche Unmengen wir beide vertilgen, denn es wurde schon ein paar Mal nachserviert. Sie deuten uns mit Handzeichen „Wandern“ und zeigen dann auf den Magen und lachen. Muy bien. Ich freue mich schon auf morgen. Ich weiß: Dieses Mal werden die Schuhe bis nach Santiago de Compostela halten!Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis Camino von Avilés nach San Esteban Array ( ) Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg Array ( ) Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3 Array ( ) 1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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    Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:

    Camino de la Costa, Camino del Norte