30 MIRAZ - SOBRADO DOS MONXES (Jakobsweg Camino del Norte)

Der Jakobsweg (Camino del Norte) von Miraz nach Sobrado dos Monxes

Camino del Norte von Miraz nach Sobrado dos Monxes

Jakobsweg Tag 30: 27 km, ca. 750 hm.

Heute ist das Aufstehen ziemlich exzentrisch. Canada-Sepp weckt uns mit klassischer Musik. Und er hat uns ein tolles Pilgerfrühstück zubereitet. Hier kann auch ich nicht nein sagen. Und Eile habe ich ebenso wenig.

Jean-Louis und ich brechen gemeinsam mit Mariette und Corinna auf. Sofort finden wir uns in einer felsigen Heidelandschaft wieder. Gerade bricht das erste zarte Licht des Tages herein und wirft lange Schatten vor uns her. Vor uns erheben sich zwei mächtige Granitblöcke in der Ferne. Diese Stelle erinnert mich an Stonehenge. Es scheint eine magische Stelle zu sein. Wie die Eintrittspforte zu einer anderen Welt, die sich dahinter verbergen würde.

Nach den ersten gemeinsamen Schritten wandert jeder für sich allein. Einige Pilger haben vor dieser Etappe Angst, weil sie kurz nach Cabana fast 700 Meter über dem Meeresgrund erreicht. Dabei ist fast alles ein ganz sanftes bergauf und bergab. Ohne jeden Schweißtropfen kann ich heute wirklich alles genießen.

Der rote Fingerhut ist zu meinem neuen ständigen Begleiter am Wegesrand geworden. Giftig zwar, aber ich habe ja nicht vor, ihn zu essen. Mit seinen rosaroten Glocken steht er einfach überall. Wie immer lege ich ein paar Blumen oder Pilze an markante Stellen als Zeichen für die anderen aus.

Es war die richtige Entscheidung, in Miraz zu verweilen und nun diese einmalige Landschaft genießen zu können. Die Etappe ist heute offiziell nur 26 Kilometer lang und ich werde ein paar Umwege machen. Wenn man erst einmal das Laufen gewöhnt ist, dann ist das ein Spaziergang. Schon früh erreiche ich als einer der ersten Pilger Sobrado dos Monxes. Das Sobrado der Mönche? Die Bauten des Klosters sind schon von außen beeindruckend.

Als ich an der Pforte klopfe, passierte erst einmal gar nichts. Dann aber werde ich in einen Zwischengang eingelassen. Zum Vorzeigen meines Credentials. Die Prüfung dauert eine kleine Ewigkeit. Und dann erst öffnen sich die Pforten des Klosters für mich.

 

Kloster am Jakobsweg: Ich trete ein in einen Innenhof der Ruhe.

Und ich habe jede Menge Ehrfurcht vor den Sitten und Regeln, die hier herrschen. Im ehemaligen Pferdestall (das ist jetzt nicht abwertend gemeint, ganz im Gegenteil) haben sie für Pilger einen fantastischen Schlafraum eingerichtet. Ein uriges Gewölbe aus Stein und Holz. Die Duschen sind in den steinernen Gewölbevorsprüngen untergebracht. Sagenhaft. Als der Mönch der Mönche zu mir kommt, stellt er mir prüfende Fragen zu meinem Jakobsweg. Ein merkwürdiges Gefühl. Und dann nimmt er mir meinen Pilgerausweis ab. Und den gebe ich sehr ungern aus meiner Hand. Aber es ist ja ein Mönch.

Erst später, als bereits andere Pilger hier sind, weiß ich, dass auch ihre Pilgerausweise „beschlagnahmt“ werden. Die Kirche registriert fein säuberlich alles. Heute mit modernen Scannern von HP.

Dennoch ist es eine sehr interessante Gelegenheit, sich mit den Gottesleuten zu unterhalten. Alle sind sie recht weltgewandt und sprechen fließend ein halbes Dutzend Sprachen. Einer der Mönche zeigt mir dann, dass es für Pilger auch eine eigene Küche gibt. Und was für eine! Hier warten Töpfe und Pfannen, um auch Dreißig und mehr Personen zu bekochen. Dieser Gedanke lässt mich dann auch nicht mehr los.

Nach und nach kommen die anderen Pilger an. Zu meinem Entsetzen auch solche, die die heutige Etappe mit dem Taxi gemacht haben. Für Jean-Louis, Mariette und Corinna möchte ich heute Abend eine Paella kochen. Und das spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Schließlich möchten nun so um die 12 Personen mitessen.

Auf dieses Ereignis freue ich mich. Ich besorge zwei Kilo Reis, Safran, Meeresfrüchte, Fisch, Paprika, Zwiebeln usw. Corinna ist begeistert und macht sofort mit. Noch nie hat einer von uns in so großen Töpfen etwas gekocht. Würde das gelingen? Schon während des Schneidens und Waschens der Zutaten haben sich alle in der Küche versammelt. Ein Berg frisches Weißbrot steht in der Mitte der uralten Holztische. Und viele haben eine Flasche Rotwein mitgebracht.

Auch Haiar ist wieder hier. Ein älterer vornehmer Herr, den ich in Miraz kennen gelernt habe. Auch er fragt, ob er denn bei uns mitessen dürfe. Natürlich, sage ich. Er kramt sogleich in seinem Geldbeutel herum und möchte mir irgendwie Geld geben. Nö, meine ich.

Vielleicht zählen wir hinterher zusammen. Und mehr als zwei Euro werden es ganz bestimmt nicht. Seinen großen Schein soll er doch bitte wieder wegstecken. Noch einmal fragt er, ob er wirklich mitessen dürfe. Was soll das, frage ich mich, während Haiar in Tränen ausbricht.

30 MIRAZ - SOBRADO DOS MONXES (Jakobsweg Camino del Norte)

Kloster Sobrado dos Monxes

Im Kloster: Plötzlich sind alle gleich!

Ich nehme ihn und gehe mit ihm vor die Türe. Haiar war ein großer Unternehmensberater. Zigfacher Millionär. Doch sein Vermögen hat er verdient, in dem er die Existenzen anderer zerstört hat. Nun sei er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Er fragt sich, wie er je etwas gutmachen kann.

Schon komisch, welche verschiedenen Gedanken sich Menschen machen, welche Sorgen und Beweggründe sie haben. Kann man erwarten, Antworten zu finden, wenn man nur drei Tage am Jakobsweg unterwegs ist? Kann man überhaupt Antworten finden?

Vielleicht ist sogar diese Fragestellung an sich schon völlig falsch. Denn in meinem früheren Alltag war es für mich normal, mir andauernd irgendwelche Fragen zu stellen. Ebenso normal war es auch, über all das zu Grübeln und zu Sinnieren. Und ständig produzierte mein Gehirn irgendwelche Antworten. Doch prompt kamen schon wieder die nächsten Fragen, die mich ständig begleiteten.

Hier am Jakobsweg hat mein Gehirn endlich nur Ruhe gegeben. Einfach keine großen Fragen mehr gestellt. Und einfach gewartet, was jeden Tag so alles auf mich zukommt. Die Suche nach Antworten hat sich schon nach den ersten Tagen insofern erübrigt, weil gar keine Fragen mehr da waren.

Aber habe ich auch etwas gelernt? Werde ich etwas vom Jakobsweg mitnehmen können? Irgendeine Lebensweisheit, die mir dann bleiben würde? Und habe ich mich hier verändert?

Ich selbst denke schon. Entscheiden werden es dann die anderen, die mich wieder sehen. Aber selbst heute ist mir am Jakobsweg erneut so einiges klar geworden.

Was werden die anderen über dich denken?

Nichts, gar nichts. Es ist nur eine der vielen typischen Fragen, die man sich im ganz normalen Leben so stellt – obgleich vollkommen unsinnig.

Die tägliche Etikette, der sogenannte Anstand und die aufgesetzte Höflichkeit belasten doch nur. Wenn das liebe Gehirn ständig damit befasst ist, wie und in welcher Form man etwas sagen kann, oder besser nicht sagen sollte, dann muss das auf Dauer anstrengend sein. Was sollen andere denn überhaupt von einem denken?

Zumindest als Mann kann ich über dieses Thema ausführlich schreiben. Denn am Jakobsweg ist plötzlich etwas weg, was mich sonst dauernd begleitete: Man könnte es das männliche Balzgefühl nennen. Und hier unterscheiden wir uns gar nicht so sehr von unseren tierischen Verwandten.

Fortwährend müssen die Männchen um Aufmerksamkeit buhlen. Das farbenfrohste Gefieder haben. Aus reinem Imponiergehabe posieren, bellen und beißen. Jeden Rivalen angehen, lauter sein, stärker sein, aggressiver sein. Männchen machen, grunzen und grölen.

Übergangslos fügt sich dieses Verhalten in unsere ganz eigene Männerwelt perfekt ein. Witziger sein, spannender sein, unterhaltsamer sein. Oder: Geiler sein, mehr Hammer sein, noch cooler sein. Mehr trinken können, als der Rivale. Mehr PS haben und mehr Apps. Mehr Sportgeräte und mehr Fernseher. Mehr Strafzettel, mehr Punkte. Mehr SMS, mehr Facebook-Freunde und mehr Partys: Einfach cooler sein. Gesehen werden, die neuesten Sachen haben, das Dach offen haben. Ich könnte noch ewig so fortfahren. Und das, obwohl ich seit 20 Jahren in festen Händen bin.

Nur all das oben erwähnte, was natürlich sicher auf alle anderen Männer NICHT zutrifft, ist am Jakobsweg völlig überflüssig. Ich habe nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, laut auf ein Jakobswegschild mit meiner flachen Hand zu klatschen und „geil“ in die Welt zu schreien. Und ich habe mich nicht ein einziges Mal darüber geärgert, wenn ein Auto an mir vorbeifuhr. (Diesen Satz muss man sich noch einmal ganz langsam vor Augen führen). „…wenn ein Auto an mir vorbeifuhr“, links!

Das hat es in meinem normalen Leben schon lange nicht mehr gegeben, das einfach so ein Auto an mir vorbeifuhr – links. Zumindest kampflos hat es das schon lange nicht mehr gegeben. Selbst wenn der andere mehr PS hatte. Aber ich hatte dann den größeren Adrenalinpegel. Garantiert. Und einfach so das Feld räumen, das ging früher gar nicht.

Klar, jetzt kann man wieder auf die Raser schimpfen (Frauen, bitte die nächste Seite überspringen). Aber mal ehrlich: Bei einem ganz normalen Herzinfarkt sind es doch auch nicht die Blutkörperchen, die ganz brav Gas geben und zügig mitfliesen, sondern die, die blockieren! Ich habe noch nie von einem Vorderwandinfarkt gehört, den ein zu schnell fließendes Blutkörperchen je in dieser Welt ausgelöst hätte. Schuld sind die, die einfach nicht weggehen und alle anderen ausbremsen (Sie müssen NICHT meiner Meinung sein).

Zurück zum normalen Alltagswahnsinn. Meistens bin ich im Auto allein unterwegs. Fast immer ist die rechte Spur frei. Auf der mittlernen krebsen ein paar Kurierfahrer herum (auch oft ganz schön schnell). Und links geht nichts. Die fahren einfach nicht weg. Großer Abstand, so wie vorgeschrieben wird sogar grundsätzlich missverstanden als, „Ja, du darfst ruhig auch noch reinfahren und mich ausbremsen“. Schließt man ein wenig näher auf, wird das ebenfalls wieder missverstanden: „Jetzt lasse ich dich garantiert nicht mehr vorbei“.

30 MIRAZ - SOBRADO DOS MONXES (Jakobsweg Camino del Norte)

Ortsschild Sobrad dos Monxes

Rechts vorbei ist auch schlecht.

Aber offenbar in exakt dem Fall erlaubt, in dem der Linke bremsen muss (Beweisführung nicht einfach). Natürlich geht es auch trickreicher. Erst einen BMW überholen (der ist dann hundertprozentig gereizt) und dann dem Vordermann ein wenig hinter herfahren. Beim Hintermann wird sehr schnell der Adrenalinpegel nach oben schnellen. Sodann kurz frei machen. Jetzt muss er zeigen, was er drauf hat. Es ist herrlich, einen anderen jagen zu lassen, weil es immer funktioniert.

Es funktioniert nur dann nicht, wenn meine Frau neben mir sitzt. Denn sie macht garantiert im aller unpassendsten Moment höchster Anspannung den Mund auf. Grundsätzlich steht sie dann auf der falschen Seite. Der absehbare Kommentar ist immer gegen mich, nie gegen den anderen.

Der vor mir nötigt mich seit Kilometern, der hinter mir fährt extrem dicht auf und: Ich bin der Böse! „Soll ich fahren Schatz?“ Als ob es da anders wäre?

Doch, ist es. Meine Frau fährt noch dichter auf, hat aber überhaupt keinen Stress damit. Offenbar schüttet ihr Körper auch kein Adrenalin aus, wenn ich als Beifahrer schon dabei bin, das Bodenblech durch zu drücken. Und der Hintermann? Der stresst mich jetzt als Beifahrer. Meine Frau hat ihn noch gar nicht entdeckt, weil der Spiegel auch eher zum Schminken da ist. Alles seelenruhig und ganz entspannt.

Jakobsweg: Kein Wettkampf mehr – Ruhe!

Am Jakobsweg sind diese Antriebe in Ermangelung ausreichender Gelegenheiten (bis auf wenige Ausnahmen) nun weggebrochen. Zeit und Energie stehen nun für echte Lebensfreude zur Verfügung.

Aber auch bei den Frauen am Jakobsweg habe ich eine große Entspanntheit festgestellt. Da ist keine dabei, die ich bei einem Gespräch über Zellulitis oder Übergewicht ertappt hätte. Keine Gespräche über die ersten Fältchen, Botox oder Schuhe.

Und die morgendliche Stunde zum schönmachen fiel auch weg. Keine Schminke und kein Makeup. Keine zeitaufwendigen Frisuren. Keine Küche, kein Haushalt. Und auch keine Spielereien mit der armen Männerwelt.

Fast hätte ich gedacht, hier am Jakobsweg könnte ich Frauen tatsächlich verstehen. Denn keine der Damen unternahm Anstrengungen, permanent um zwei, drei oder gleich mehrere Ecken vorauszudenken. Keine Halbsätze, kein Interpretationsbedarf, der ohnehin immer zu falschen Ergebnissen kommt. „Hast du mir nicht zugehört? Ich habe es dir doch eben gerade gesagt!“ Nichts von diesen unangenehmen Situationen oder Missverständnissen gibt es hier am Jakobsweg. Alles ist rudimentär und simpel geworden. Männerfreundlich könnte man auch sagen.

Die Themen sind stets einfach und glasklar. Eine angemessene Frage und immer passende Frage ist zum Beispiel: „Was machen deine Zehen?“. Erstaunlicherweise ist die Antwort nie „passt schon“ – was bei meiner Frau ja immer im Sinne von „es passt gerade gar nichts“ zu interpretieren ist. Nein, es gibt ganze Gespräche über die Zehen, die einzelnen Zehen, die Nägel, die Blasen, das Pflaster und so weiter.

Würde es doch im richtigen Leben auch so einfach gehen: „Hey, was machen deine Knie?“.

Am Jakobsweg ist es also viel angenehmer. Am Anfang dachte ich mir noch: Frauen und Männer im gleichen Zimmer? Wenn allerdings jeder sofort nach dem Abendessen um 17:00 Uhr schon in sein Bett geht und sofort einschläft, dann spielt auch das Geschlecht keine Rolle. Man sucht sich sein Bett nicht nach Geschlechtern, sondern nach harten Fakten aus. Wer von den Pilgern schnarcht am lautesten? Wo liegt er oder sie? Ja, auch Frauen können unsäglich laut schnarchen! Also möglichst weit weg und möglichst nahe an ein Fenster.

Zwischen den Pilgern, die sich schon kennen, entsteht dann auch so eine Art feste Ordnung.

Jakobsweg: Man bleibt zusammen.

So habe ich nach dem Gespräch mit Haiar weiter mit Corinna unsere große Paella gekocht. Ein bisschen fühle ich mich wie beim letzten Abendmahl. Auch wenn ich nun gerne in Santiago ankommen möchte, ist es doch schade, dass es nun langsam zu Ende gehen wird.

In der Nacht darf ich als Gast an den Gebeten und Gesängen der Mönche teilnehmen.


    Christian Seebauer am Jakobsweg

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    Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste Der Jakobsweg (Camino del Norte) von Miraz nach Sobrado dos Monxes Camino del Norte von Miraz nach Sobrado dos Monxes Jakobsweg Tag 30: 27 km, ca. 750 hm. Heute ist das Aufstehen ziemlich exzentrisch. Canada-Sepp weckt uns mit klassischer Musik. Und er hat uns ein tolles Pilgerfrühstück zubereitet. Hier kann auch ich nicht nein sagen. Und Eile habe ich ebenso wenig. Jean-Louis und ich brechen gemeinsam mit Mariette und Corinna auf. Sofort finden wir uns in einer felsigen Heidelandschaft wieder. Gerade bricht das erste zarte Licht des Tages herein und wirft lange Schatten vor uns her. Vor uns erheben sich zwei mächtige Granitblöcke in der Ferne. Diese Stelle erinnert mich an Stonehenge. Es scheint eine magische Stelle zu sein. Wie die Eintrittspforte zu einer anderen Welt, die sich dahinter verbergen würde. Nach den ersten gemeinsamen Schritten wandert jeder für sich allein. Einige Pilger haben vor dieser Etappe Angst, weil sie kurz nach Cabana fast 700 Meter über dem Meeresgrund erreicht. Dabei ist fast alles ein ganz sanftes bergauf und bergab. Ohne jeden Schweißtropfen kann ich heute wirklich alles genießen. Der rote Fingerhut ist zu meinem neuen ständigen Begleiter am Wegesrand geworden. Giftig zwar, aber ich habe ja nicht vor, ihn zu essen. Mit seinen rosaroten Glocken steht er einfach überall. Wie immer lege ich ein paar Blumen oder Pilze an markante Stellen als Zeichen für die anderen aus. Es war die richtige Entscheidung, in Miraz zu verweilen und nun diese einmalige Landschaft genießen zu können. Die Etappe ist heute offiziell nur 26 Kilometer lang und ich werde ein paar Umwege machen. Wenn man erst einmal das Laufen gewöhnt ist, dann ist das ein Spaziergang. Schon früh erreiche ich als einer der ersten Pilger Sobrado dos Monxes. Das Sobrado der Mönche? Die Bauten des Klosters sind schon von außen beeindruckend. Als ich an der Pforte klopfe, passierte erst einmal gar nichts. Dann aber werde ich in einen Zwischengang eingelassen. Zum Vorzeigen meines Credentials. Die Prüfung dauert eine kleine Ewigkeit. Und dann erst öffnen sich die Pforten des Klosters für mich. Kloster am Jakobsweg: Ich trete ein in einen Innenhof der Ruhe. Und ich habe jede Menge Ehrfurcht vor den Sitten und Regeln, die hier herrschen. Im ehemaligen Pferdestall (das ist jetzt nicht abwertend gemeint, ganz im Gegenteil) haben sie für Pilger einen fantastischen Schlafraum eingerichtet. Ein uriges Gewölbe aus Stein und Holz. Die Duschen sind in den steinernen Gewölbevorsprüngen untergebracht. Sagenhaft. Als der Mönch der Mönche zu mir kommt, stellt er mir prüfende Fragen zu meinem Jakobsweg. Ein merkwürdiges Gefühl. Und dann nimmt er mir meinen Pilgerausweis ab. Und den gebe ich sehr ungern aus meiner Hand. Aber es ist ja ein Mönch. Erst später, als bereits andere Pilger hier sind, weiß ich, dass auch ihre Pilgerausweise „beschlagnahmt“ werden. Die Kirche registriert fein säuberlich alles. Heute mit modernen Scannern von HP. Dennoch ist es eine sehr interessante Gelegenheit, sich mit den Gottesleuten zu unterhalten. Alle sind sie recht weltgewandt und sprechen fließend ein halbes Dutzend Sprachen. Einer der Mönche zeigt mir dann, dass es für Pilger auch eine eigene Küche gibt. Und was für eine! Hier warten Töpfe und Pfannen, um auch Dreißig und mehr Personen zu bekochen. Dieser Gedanke lässt mich dann auch nicht mehr los. Nach und nach kommen die anderen Pilger an. Zu meinem Entsetzen auch solche, die die heutige Etappe mit dem Taxi gemacht haben. Für Jean-Louis, Mariette und Corinna möchte ich heute Abend eine Paella kochen. Und das spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Schließlich möchten nun so um die 12 Personen mitessen. Auf dieses Ereignis freue ich mich. Ich besorge zwei Kilo Reis, Safran, Meeresfrüchte, Fisch, Paprika, Zwiebeln usw. Corinna ist begeistert und macht sofort mit. Noch nie hat einer von uns in so großen Töpfen etwas gekocht. Würde das gelingen? Schon während des Schneidens und Waschens der Zutaten haben sich alle in der Küche versammelt. Ein Berg frisches Weißbrot steht in der Mitte der uralten Holztische. Und viele haben eine Flasche Rotwein mitgebracht. Auch Haiar ist wieder hier. Ein älterer vornehmer Herr, den ich in Miraz kennen gelernt habe. Auch er fragt, ob er denn bei uns mitessen dürfe. Natürlich, sage ich. Er kramt sogleich in seinem Geldbeutel herum und möchte mir irgendwie Geld geben. Nö, meine ich. Vielleicht zählen wir hinterher zusammen. Und mehr als zwei Euro werden es ganz bestimmt nicht. Seinen großen Schein soll er doch bitte wieder wegstecken. Noch einmal fragt er, ob er wirklich mitessen dürfe. Was soll das, frage ich mich, während Haiar in Tränen ausbricht. Im Kloster: Plötzlich sind alle gleich! Ich nehme ihn und gehe mit ihm vor die Türe. Haiar war ein großer Unternehmensberater. Zigfacher Millionär. Doch sein Vermögen hat er verdient, in dem er die Existenzen anderer zerstört hat. Nun sei er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Er fragt sich, wie er je etwas gutmachen kann. Schon komisch, welche verschiedenen Gedanken sich Menschen machen, welche Sorgen und Beweggründe sie haben. Kann man erwarten, Antworten zu finden, wenn man nur drei Tage am Jakobsweg unterwegs ist? Kann man überhaupt Antworten finden? Vielleicht ist sogar diese Fragestellung an sich schon völlig falsch. Denn in meinem früheren Alltag war es für mich normal, mir andauernd irgendwelche Fragen zu stellen. Ebenso normal war es auch, über all das zu Grübeln und zu Sinnieren. Und ständig produzierte mein Gehirn irgendwelche Antworten. Doch prompt kamen schon wieder die nächsten Fragen, die mich ständig begleiteten. Hier am Jakobsweg hat mein Gehirn endlich nur Ruhe gegeben. Einfach keine großen Fragen mehr gestellt. Und einfach gewartet, was jeden Tag so alles auf mich zukommt. Die Suche nach Antworten hat sich schon nach den ersten Tagen insofern erübrigt, weil gar keine Fragen mehr da waren. Aber habe ich auch etwas gelernt? Werde ich etwas vom Jakobsweg mitnehmen können? Irgendeine Lebensweisheit, die mir dann bleiben würde? Und habe ich mich hier verändert? Ich selbst denke schon. Entscheiden werden es dann die anderen, die mich wieder sehen. Aber selbst heute ist mir am Jakobsweg erneut so einiges klar geworden. Was werden die anderen über dich denken? Nichts, gar nichts. Es ist nur eine der vielen typischen Fragen, die man sich im ganz normalen Leben so stellt – obgleich vollkommen unsinnig. Die tägliche Etikette, der sogenannte Anstand und die aufgesetzte Höflichkeit belasten doch nur. Wenn das liebe Gehirn ständig damit befasst ist, wie und in welcher Form man etwas sagen kann, oder besser nicht sagen sollte, dann muss das auf Dauer anstrengend sein. Was sollen andere denn überhaupt von einem denken? Zumindest als Mann kann ich über dieses Thema ausführlich schreiben. Denn am Jakobsweg ist plötzlich etwas weg, was mich sonst dauernd begleitete: Man könnte es das männliche Balzgefühl nennen. Und hier unterscheiden wir uns gar nicht so sehr von unseren tierischen Verwandten. Fortwährend müssen die Männchen um Aufmerksamkeit buhlen. Das farbenfrohste Gefieder haben. Aus reinem Imponiergehabe posieren, bellen und beißen. Jeden Rivalen angehen, lauter sein, stärker sein, aggressiver sein. Männchen machen, grunzen und grölen. Übergangslos fügt sich dieses Verhalten in unsere ganz eigene Männerwelt perfekt ein. Witziger sein, spannender sein, unterhaltsamer sein. Oder: Geiler sein, mehr Hammer sein, noch cooler sein. Mehr trinken können, als der Rivale. Mehr PS haben und mehr Apps. Mehr Sportgeräte und mehr Fernseher. Mehr Strafzettel, mehr Punkte. Mehr SMS, mehr Facebook-Freunde und mehr Partys: Einfach cooler sein. Gesehen werden, die neuesten Sachen haben, das Dach offen haben. Ich könnte noch ewig so fortfahren. Und das, obwohl ich seit 20 Jahren in festen Händen bin. Nur all das oben erwähnte, was natürlich sicher auf alle anderen Männer NICHT zutrifft, ist am Jakobsweg völlig überflüssig. Ich habe nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, laut auf ein Jakobswegschild mit meiner flachen Hand zu klatschen und „geil“ in die Welt zu schreien. Und ich habe mich nicht ein einziges Mal darüber geärgert, wenn ein Auto an mir vorbeifuhr. (Diesen Satz muss man sich noch einmal ganz langsam vor Augen führen). „...wenn ein Auto an mir vorbeifuhr“, links! Das hat es in meinem normalen Leben schon lange nicht mehr gegeben, das einfach so ein Auto an mir vorbeifuhr – links. Zumindest kampflos hat es das schon lange nicht mehr gegeben. Selbst wenn der andere mehr PS hatte. Aber ich hatte dann den größeren Adrenalinpegel. Garantiert. Und einfach so das Feld räumen, das ging früher gar nicht. Klar, jetzt kann man wieder auf die Raser schimpfen (Frauen, bitte die nächste Seite überspringen). Aber mal ehrlich: Bei einem ganz normalen Herzinfarkt sind es doch auch nicht die Blutkörperchen, die ganz brav Gas geben und zügig mitfliesen, sondern die, die blockieren! Ich habe noch nie von einem Vorderwandinfarkt gehört, den ein zu schnell fließendes Blutkörperchen je in dieser Welt ausgelöst hätte. Schuld sind die, die einfach nicht weggehen und alle anderen ausbremsen (Sie müssen NICHT meiner Meinung sein). Zurück zum normalen Alltagswahnsinn. Meistens bin ich im Auto allein unterwegs. Fast immer ist die rechte Spur frei. Auf der mittlernen krebsen ein paar Kurierfahrer herum (auch oft ganz schön schnell). Und links geht nichts. Die fahren einfach nicht weg. Großer Abstand, so wie vorgeschrieben wird sogar grundsätzlich missverstanden als, „Ja, du darfst ruhig auch noch reinfahren und mich ausbremsen“. Schließt man ein wenig näher auf, wird das ebenfalls wieder missverstanden: „Jetzt lasse ich dich garantiert nicht mehr vorbei“. Rechts vorbei ist auch schlecht. Aber offenbar in exakt dem Fall erlaubt, in dem der Linke bremsen muss (Beweisführung nicht einfach). Natürlich geht es auch trickreicher. Erst einen BMW überholen (der ist dann hundertprozentig gereizt) und dann dem Vordermann ein wenig hinter herfahren. Beim Hintermann wird sehr schnell der Adrenalinpegel nach oben schnellen. Sodann kurz frei machen. Jetzt muss er zeigen, was er drauf hat. Es ist herrlich, einen anderen jagen zu lassen, weil es immer funktioniert. Es funktioniert nur dann nicht, wenn meine Frau neben mir sitzt. Denn sie macht garantiert im aller unpassendsten Moment höchster Anspannung den Mund auf. Grundsätzlich steht sie dann auf der falschen Seite. Der absehbare Kommentar ist immer gegen mich, nie gegen den anderen. Der vor mir nötigt mich seit Kilometern, der hinter mir fährt extrem dicht auf und: Ich bin der Böse! „Soll ich fahren Schatz?“ Als ob es da anders wäre? Doch, ist es. Meine Frau fährt noch dichter auf, hat aber überhaupt keinen Stress damit. Offenbar schüttet ihr Körper auch kein Adrenalin aus, wenn ich als Beifahrer schon dabei bin, das Bodenblech durch zu drücken. Und der Hintermann? Der stresst mich jetzt als Beifahrer. Meine Frau hat ihn noch gar nicht entdeckt, weil der Spiegel auch eher zum Schminken da ist. Alles seelenruhig und ganz entspannt. Jakobsweg: Kein Wettkampf mehr – Ruhe! Am Jakobsweg sind diese Antriebe in Ermangelung ausreichender Gelegenheiten (bis auf wenige Ausnahmen) nun weggebrochen. Zeit und Energie stehen nun für echte Lebensfreude zur Verfügung. Aber auch bei den Frauen am Jakobsweg habe ich eine große Entspanntheit festgestellt. Da ist keine dabei, die ich bei einem Gespräch über Zellulitis oder Übergewicht ertappt hätte. Keine Gespräche über die ersten Fältchen, Botox oder Schuhe. Und die morgendliche Stunde zum schönmachen fiel auch weg. Keine Schminke und kein Makeup. Keine zeitaufwendigen Frisuren. Keine Küche, kein Haushalt. Und auch keine Spielereien mit der armen Männerwelt. Fast hätte ich gedacht, hier am Jakobsweg könnte ich Frauen tatsächlich verstehen. Denn keine der Damen unternahm Anstrengungen, permanent um zwei, drei oder gleich mehrere Ecken vorauszudenken. Keine Halbsätze, kein Interpretationsbedarf, der ohnehin immer zu falschen Ergebnissen kommt. „Hast du mir nicht zugehört? Ich habe es dir doch eben gerade gesagt!“ Nichts von diesen unangenehmen Situationen oder Missverständnissen gibt es hier am Jakobsweg. Alles ist rudimentär und simpel geworden. Männerfreundlich könnte man auch sagen. Die Themen sind stets einfach und glasklar. Eine angemessene Frage und immer passende Frage ist zum Beispiel: „Was machen deine Zehen?“. Erstaunlicherweise ist die Antwort nie „passt schon“ – was bei meiner Frau ja immer im Sinne von „es passt gerade gar nichts“ zu interpretieren ist. Nein, es gibt ganze Gespräche über die Zehen, die einzelnen Zehen, die Nägel, die Blasen, das Pflaster und so weiter. Würde es doch im richtigen Leben auch so einfach gehen: „Hey, was machen deine Knie?“. Am Jakobsweg ist es also viel angenehmer. Am Anfang dachte ich mir noch: Frauen und Männer im gleichen Zimmer? Wenn allerdings jeder sofort nach dem Abendessen um 17:00 Uhr schon in sein Bett geht und sofort einschläft, dann spielt auch das Geschlecht keine Rolle. Man sucht sich sein Bett nicht nach Geschlechtern, sondern nach harten Fakten aus. Wer von den Pilgern schnarcht am lautesten? Wo liegt er oder sie? Ja, auch Frauen können unsäglich laut schnarchen! Also möglichst weit weg und möglichst nahe an ein Fenster. Zwischen den Pilgern, die sich schon kennen, entsteht dann auch so eine Art feste Ordnung. Jakobsweg: Man bleibt zusammen. So habe ich nach dem Gespräch mit Haiar weiter mit Corinna unsere große Paella gekocht. Ein bisschen fühle ich mich wie beim letzten Abendmahl. Auch wenn ich nun gerne in Santiago ankommen möchte, ist es doch schade, dass es nun langsam zu Ende gehen wird. In der Nacht darf ich als Gast an den Gebeten und Gesängen der Mönche teilnehmen.Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis Der Jakobsweg (Camino del Norte) von Miraz nach Sobrado dos Monxes Array ( ) Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg Array ( ) Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3 Array ( ) 1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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    Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:

    Camino de la Costa, Camino del Norte