Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO - POBEÑA Jakobsweg an der Küste

BILBAO – POBEÑA

Bilbao – Pobeña

Tag 7: 27 km, ca. 300 Höhenmeter, über Getxo, Portugalete, La Arena.

Genau genommen will ich allein gehen. Jean-Louis lässt mir aber gar keine Wahl. Er klebt sich förmlich an mich. Egal, ob ich langsamer werde. Er wird es auch. Und wenn ich schneller werde, wird er es ebenfalls. Er weicht mir nicht von meiner Seite. Wie ein Schatten.

So geht es gemächlich aus der Stadt hinaus, noch bevor sie richtig zum Leben erwacht. Nahtlos geht Bilbo über in die Küstenvorstädte Barakaldo, Sestao und Portugalete. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nicht mehr zu den Autofahrern zu gehören. Alles ist wunderbar stressfrei und es geht stetig voran. Kein Stop and Go. Kein Zeitdruck. Einfach immer weiter mit dem eigenen Rhythmus. Immer entlang des Flusses Nervión. Seine breiten Ufer sind noch gezeichnet vom Hochwasser. Beim Zurückweichen hat die Flut einen niedergedrückten Saum hinterlassen. Doch schon wächst bereits das erste Gras durch den braunen Schlamm.

Ein kühler Wind bläst mir von der Seeseite entgegen. Und es wärmen mich gleich die ersten Sonnenstrahlen des Tages wohltuend. Sie wollen heute bestimmt die Oberhand im Wolkengetümmel bekommen. Das Durcheinander von Neubauten und alten Steinhäusern gefällt mir. So geht es eben auch. Kein Landratsamt scheint hier die Bürger mit irrwitzigen Bauvorschriften zu gängeln. Geparkt wird überall, wo Platz ist. Zur Not lässt man auch schon mal den Schlüssel stecken, damit andere den Wagen schnell umparken können. Verkehrsschilder gibt es nur wenige und viele Ampeln sind einfach abgeschaltet. Freundliche Handzeichen und Blickkontakt funktionieren ebenso gut in Bilbo. Das gilt auch für mich als Fußgänger.

Der Uferweg erstreckt sich jetzt schon eine ganze Weile 50 Meter oberhalb des Nervión hinaus zur Küste. Und der Nervión zeigt mir sein Bilbo von der schönsten Seite.

Die stählerne Schwebefähre unter der Puente de Vizcaya über den Nervión fasziniert mich. Sie hat was von einem alten James-Bond-Streifen. Doch alles Verkehrstechnische gehört in diesen Wochen in eine andere Welt. Nicht in meine.

Erst gegen Mittag entrinne ich langsam dem Ballungsraum. Die Stadtverwaltung muss es hier besonders gut gemeint haben. Sie hat eine aufgeblasene Radfahrer- und Fußgängerstraße zum Meer hinaus pflastern lassen. Die linke Hälfte für die Radfahrer ist rot. Und die Fußgänger laufen auf frisch geteertem Schwarz. Eine echte Tortur für meine Füße! Für diesen EU-konformen Belag sind meine Sandalen nun wirklich nicht ausgelegt. Eine riesige Bautafel dankt der Europäischen Union für die Fördermittel. Welch unsinnige Geldverschwendung. Was für ein Frevel!

Solche Tafeln habe ich schon mehrfach entdeckt. Das Besondere daran ist, dass die Geldsumme solch sinnloser Baumaßnahmen immer auf Mark und Pfennig – pardon, in Euro vermerkt ist. Wenn man so etwas einmal im deutschen Fernsehen zu Gesicht bekommen würde, dann würde den Leuten sicher der Kragen platzen.

Ob diese plumpe Subventionspralerei einen stolzen Basken dazu bringt, an der Wahlurne „Mister Europa“ zu wählen, sei dahin gestellt.

Jean-Louis fotografiert die EU-Tafel.

Er trabt etwa einen halben Kilometer hinter mir her.

Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO - POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Schaf und Pilger, Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO – POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Das entlaufene Schäfchen

Erst gegen Mittag ist er dann wieder bei mir. Von hier an gesellt sich ein weißes Schaf zu uns auf dem abfallenden Weg Richtung Küste. Es scheint Pilger zu mögen und läuft einfach mit. Beizeiten treibt Jean-Louis das Schaf zurück auf die Weide. Ich drücke den Stacheldraht zu Boden und das Schaf ist wieder da, wo es hingehört…

…glauben wir. Denn schon wenige Meter meldet es sich mit einem kräftigen „Määh“ wieder zurück! Es hat in der lückenhaften Einfriedung sofort wieder einen Ausgang gefunden.

Dieses Wollknäuel weicht mir keinen Meter mehr von der Seite. Von links nach rechts, von rechts nach links macht es ständig auf sich aufmerksam.

So bleibt uns nach fünf Kilometern nur, unsere kostbaren Äpfel dem Schaf abzutreten. Ich denke mir, wenn das Schaf mit dem Fressen beschäftigt ist, wird es schon zurückbleiben. Dem ist aber nicht so. Ein „entwendetes“ Schaf hat mir gerade noch gefehlt. Doch die Rettung naht.

Zwei entgegen kommende Wanderer finden das Schaf „muy dulce“ – sehr süß. Während sie Fotos mit sich und dem Schaf knipsen, ergreifen Jean-Louis und ich unsere Chance, zu türmen.

Kurz nach dem Ortsrand von Ortuella erreichen wir die Bucht von Pobeña. Ein Surfspott vom Allerfeinsten! Und eine Augenweide. Ungezähmt fegt der Wind feinen ockerfarbenen Sand durch die Lüfte. Die Bucht ist fast menschenleer. Dafür zeigen uns ein paar Kitesurfer mit sensationellen Sprüngen ihr akrobatisches Können. „Formidable, exceptionnel“ entkommt es Jean-Louis. Ja, das habe ich vor geraumer Zeit in der Schule gelernt.

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Pilger in Bilbao, Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO – POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Sprache ist das Tor in eine andere Welt

Französisch war mein schlechtestes Fach. Zumindest, was Grammatik und Textanalysen anbelangte. Und die brauche ich hier wirklich nicht. Ich verstehe Jean-Louis ganz gut und dafür hätte ich damals eine glatte Eins verdient!

Eine Sprache bedeutet für mich einfach darauf los sprechen. Etwas aufschnappen und im Kontext zu verstehen. Sich mit Händen und Füßen verständlich machen. Und sich dadurch näher zu kommen. Noch heute habe ich das Gefühl, dass es in der Schule nur darum ging, einem Schüler aufzuzeigen, was er alles nicht kann.

Hier am Weg hängt alles von der Sympathie und dem Einfühlungsvermögen des Gesprächspartners ab. All das hat mir meine damalige Lehrerin nie vermittelt. Meinen Eltern hat sie in einer Sprechstunde einmal gesagt: Der ist absolut sprach-unbegabt. Dieses eine Zitat ist nun schon über 30 Jahre her und doch ist es noch immer gegenwärtig. Erst jetzt verstehe ich: Nein, ich bin nicht sprachunbegabt. Und nein, ich war es noch nie. Im Gegenteil: Ich habe immer den Mut gehabt, einfach drauf los zu reden, es immer wieder zu versuchen. Und ja, ich habe mich immer blamiert, mit falschen Ausdrücken und grammatikalischem Bullshit.

Einfach nur Komplimente

Hier muss ich keine Texte übersetzen und keine Texte analysieren. Hier bekomme ich keine Noten, sondern Komplimente! Mein schlechtes Französisch ist plötzlich „très bon, magnifique!“. Es gelingt mir immer wieder, Jean-Louis mit meinen französischen Spötteleien zum Lachen zu bringen. Ja wenn das nicht Sprache ist?

In einer Umgebung des Vertrauens kommt schnell eine Vokabel nach der anderen zurück aus den grauen Gehirnzellen. Schon erstaunlich. Unbemerkt und ohne Stress können nun Gehirnregionen wieder tätig werden, denen ich mir gar nicht mehr bewusst war.

Ich hör nch 30 Jhrn ndlich dmit uf, mir Gdnkn übr dn Sinn inzlnr Vokbln zu mchn. Und mit dm Mut zur Lück kommt plötzlich ds Vrständnis für ds Gnz. s ght uch, wnn mn nicht lls knnt.

(Hier fehlt nicht nur das „A“ sondern zusätzlich auch noch das „E“. Und trotzdem klappt‘s!)

So in Gespräche vertieft, erreichen wir La Arena. Direkt am Strand würde es sogar einen frisch gebratenen Cheeseburger geben. Hier ist tatsächlich eine rote Fastfood-Bude, die echt einladend aussieht. Die einzigen zwei Gäste sind zwei Dorfpolizisten, die es sich hier gemütlich eingerichtet haben.

Ich will aber gleich runter zum Strand, um den nächsten Kilometer Barfuß im Sand zu laufen. Klar, eine einzige Glasscherbe könnte mir meinen Weg vereiteln. Aber das Risiko werde ich eingehen. (Meine „Regenwolke“ ist nicht mehr zugegen, sonst würde sie das verhindern).

Im Sand laufen ist zwar ein wenig anstrengender, dafür eine wahre Wohltat für die Füße. Ich entscheide mich, direkt an der Wasserlinie zu laufen. Hier ist der Sand gepresst und fühlt sich herrlich an. Jede Welle umspült meine Füße. Und Scherben sind hier nicht. Auch kein Unrat, sondern einfach nur sauberer Strand. Zwei baskische Kitelehrer halten vor mir gerade zusammen ihre Schülerin fest, die ansonsten wohl direkt nach oben entgleiten würde. Ich muss lachen und rufe den Dreien „fuerte“ – stark zu.

Die beiden roten Flaggen am Strand beeindrucken jedenfalls keinen. Und für mich haben sie ohnehin keine Gültigkeit. Vielleicht sollen sie Touristen heute vom Strand abhalten, damit ich hier als Pilger „ungestört“ meine Ideallinie am Strand gehen kann? Fast scheint es so.

Zum Baden wäre es heute jedenfalls nur etwas für echt Hartgesottene. Viel zu kalt weht der Wind über den Atlantik. Gut so. Denn ich würde mich auch nicht als Badegast fühlen und so ist der leere Strandabschnitt Balsam für die Seele.

Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO - POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Sandsturm am Jakobsweg, Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO – POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Kein Pilger weit und breit

Abgesehen von Jean-Louis habe ich bis heute noch keinen einzigen Pilger gesehen. Und ich habe meinen geliebten Ozean wieder! Er hat mir die letzten beiden Tage schon gefehlt.

Am Ende der Bucht nähere ich mich einer Stahlbrücke für Fußgänger, die über eine kleine Mündung führt.

So erreiche ich trockenen Fußes die andere Seite. Hier liegt hinter zwei Kurven das idyllische Dörfchen Pobeña. Pobeña ist ein nur wenige Häuser zählendes Kleinod. Die Pilgerherberge ist schon von außen richtig einladend. Sie liegt direkt hinter einem gepflegten Park und fügt sich mit ihren schönen Natursteinmauern tadellos ein in das Landschaftsbild.

Das große Schild mit der Jakobsmuschel begrüßt mich auf Spanisch mit „Albergue de Pobeña“, sowie auf Baskisch mit „Pobenaka Aterpetxte“. Das sind zwei Paar Schuhe!

In einem geräumigen und hellen Schlafsaal warten 22 Betten. Die Hälfte davon bleibt unbelegt. Ich mache mich noch auf, um allein ein wenig durch Pobeña zu streifen. Geld und Rucksack lasse ich ohne Bedenken in der Herberge herumliegen.

Unser tägliches Brot gib uns heute

Als erstes entdecke ich einen kleinen Kastenwagen, der hier als wandernder Tante-Emmaladen unterwegs ist. Hinter dem Verkäufer ist frisches Obst und Gemüse aufgerichtet. Ein paar Dorffrauen kaufen gerade ein und holen sich den neuesten Tratsch.

Weil das Dörfchen so klein ist, komme ich noch weitere zwei Mal am Kastenwagen vorbei. Obwohl ich meinen Geldbeutel nicht dabei habe, ist in meiner Hosentasche noch ein kleines Brillensäckchen mit ein paar Cent-Münzen sowie einem Marienanhänger, den mir meine Schwiegermutter mit auf den Weg gegeben hat.

Ich gehe also zurück zum Kastenwagen und entleere das Säckchen auf meinem Handteller. Jede Menge Ein- und Zweicentstücke und eine einzige zwanzig Centmünze. Reicht das für einen Apfel? Ja, es reicht sogar für zwei.

Der muntere Baske, der nebenbei ein absoluter Alleinunterhalter zu sein scheint, hat mich längst schon beobachtet. Er fragt mich „Peregrino? Santiago?“ Ich antworte ihm mit einem verlegenen „si“, bezahle und mache mich auf und davon.

Plötzlich durchbricht ein schriller Pfiff die Stille. Der Händler gestikuliert mir wild zu, ich solle zurückkommen! Habe ich etwa zu wenig bezahlt?

Verlegen stehe ich jetzt noch einmal vor ihm. Obwohl er deutlich kleiner als ich ist, blickt er vom Kastenwagen auf mich herab. Wortlos mustert er mich jetzt von oben bis unten. Und noch einmal fragt er mich dann „Pe-re-gri-no?“.

Er streckt seine Hand zu mir hin aus. Ich soll ihm die Tüte mit den beiden Äpfeln zurück geben. Ohne zu verstehen, was gerade abgeht, händige ich ihm die Tüte wieder aus. „Alemán?“ meinte er kopfschüttelnd. Seine Hände greifen in den weißen Plastiksack und legen die beiden recht kleinen Äpfel wieder zurück an die Stelle, wo sie zuvor gelegen sind. Mir stockt der Atem. Was bitteschön soll das denn jetzt?

Besonnen greift er mit der linken Hand meinen Arm und zieht mich ein wenig her zu ihm. Mit der Rechten schnappt er sich aus einer anderen Holzkiste zwei dicke große Äpfel und legt sie behutsam in den Beutel. Obendrauf kommt ein dunkelroter fester Pfirsich. Dann schüttelt er mit beiden Händen eine weitere dünne Plastiktüte aus und befüllt sie mit zwei reifen Bananen, Tomaten, einem Säckchen getrockneter Feigen und einem langen frischen Baguette. Er stellt beides vor mir ab und kramt die zwanzig Cent wieder für mich heraus. Dann wünscht er mir mit einer ganzen Wortsalbe, die ich nicht verstehe, aber sehr wohl interpretieren kann, alles alles Gute.

Einmal im Leben die Seiten wechseln und spüren, wie es einem Bedürftigen ergeht!

Würde es so einem Bettler ergehen, wenn er – verbunden mit echter Anteilnahme etwas bekommt? Kann ich je wieder herzlos an einem Bedürftigen vorbei gehen? Schon wieder kämpfe ich gegen meine Tränen. Dieses Mal in großer Ehrfurcht.

Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO - POBEÑA Jakobsweg an der Küste

Etappe 7 am Küstenweg: BILBAO – POBEÑA Jakobsweg an der Küste


    Christian Seebauer am Jakobsweg

    Ich freue mich, wenn Du mein Buch direkt bei mir bestellen möchtest! Gerne mit persönlicher handschriftlicher Widmung. Handsigniert. Optimal als Geschenk.

    Jakobsweg an der Küste
    Christian Seebauer: BURNOUT | Jakobsweg an der Küste 19,90 € Bewertung f�r das Buch




    Christian Seebauer: Israel Trail mit Herz. Details ->
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    Israel Trail mit Herz Bewertung 5 Sterne19,95 €
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    Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste BILBAO – POBEÑA Bilbao - Pobeña Tag 7: 27 km, ca. 300 Höhenmeter, über Getxo, Portugalete, La Arena. Genau genommen will ich allein gehen. Jean-Louis lässt mir aber gar keine Wahl. Er klebt sich förmlich an mich. Egal, ob ich langsamer werde. Er wird es auch. Und wenn ich schneller werde, wird er es ebenfalls. Er weicht mir nicht von meiner Seite. Wie ein Schatten. So geht es gemächlich aus der Stadt hinaus, noch bevor sie richtig zum Leben erwacht. Nahtlos geht Bilbo über in die Küstenvorstädte Barakaldo, Sestao und Portugalete. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nicht mehr zu den Autofahrern zu gehören. Alles ist wunderbar stressfrei und es geht stetig voran. Kein Stop and Go. Kein Zeitdruck. Einfach immer weiter mit dem eigenen Rhythmus. Immer entlang des Flusses Nervión. Seine breiten Ufer sind noch gezeichnet vom Hochwasser. Beim Zurückweichen hat die Flut einen niedergedrückten Saum hinterlassen. Doch schon wächst bereits das erste Gras durch den braunen Schlamm. Ein kühler Wind bläst mir von der Seeseite entgegen. Und es wärmen mich gleich die ersten Sonnenstrahlen des Tages wohltuend. Sie wollen heute bestimmt die Oberhand im Wolkengetümmel bekommen. Das Durcheinander von Neubauten und alten Steinhäusern gefällt mir. So geht es eben auch. Kein Landratsamt scheint hier die Bürger mit irrwitzigen Bauvorschriften zu gängeln. Geparkt wird überall, wo Platz ist. Zur Not lässt man auch schon mal den Schlüssel stecken, damit andere den Wagen schnell umparken können. Verkehrsschilder gibt es nur wenige und viele Ampeln sind einfach abgeschaltet. Freundliche Handzeichen und Blickkontakt funktionieren ebenso gut in Bilbo. Das gilt auch für mich als Fußgänger. Der Uferweg erstreckt sich jetzt schon eine ganze Weile 50 Meter oberhalb des Nervión hinaus zur Küste. Und der Nervión zeigt mir sein Bilbo von der schönsten Seite. Die stählerne Schwebefähre unter der Puente de Vizcaya über den Nervión fasziniert mich. Sie hat was von einem alten James-Bond-Streifen. Doch alles Verkehrstechnische gehört in diesen Wochen in eine andere Welt. Nicht in meine. Erst gegen Mittag entrinne ich langsam dem Ballungsraum. Die Stadtverwaltung muss es hier besonders gut gemeint haben. Sie hat eine aufgeblasene Radfahrer- und Fußgängerstraße zum Meer hinaus pflastern lassen. Die linke Hälfte für die Radfahrer ist rot. Und die Fußgänger laufen auf frisch geteertem Schwarz. Eine echte Tortur für meine Füße! Für diesen EU-konformen Belag sind meine Sandalen nun wirklich nicht ausgelegt. Eine riesige Bautafel dankt der Europäischen Union für die Fördermittel. Welch unsinnige Geldverschwendung. Was für ein Frevel! Solche Tafeln habe ich schon mehrfach entdeckt. Das Besondere daran ist, dass die Geldsumme solch sinnloser Baumaßnahmen immer auf Mark und Pfennig – pardon, in Euro vermerkt ist. Wenn man so etwas einmal im deutschen Fernsehen zu Gesicht bekommen würde, dann würde den Leuten sicher der Kragen platzen. Ob diese plumpe Subventionspralerei einen stolzen Basken dazu bringt, an der Wahlurne „Mister Europa“ zu wählen, sei dahin gestellt. Jean-Louis fotografiert die EU-Tafel. Er trabt etwa einen halben Kilometer hinter mir her. Das entlaufene Schäfchen Erst gegen Mittag ist er dann wieder bei mir. Von hier an gesellt sich ein weißes Schaf zu uns auf dem abfallenden Weg Richtung Küste. Es scheint Pilger zu mögen und läuft einfach mit. Beizeiten treibt Jean-Louis das Schaf zurück auf die Weide. Ich drücke den Stacheldraht zu Boden und das Schaf ist wieder da, wo es hingehört... ...glauben wir. Denn schon wenige Meter meldet es sich mit einem kräftigen „Määh“ wieder zurück! Es hat in der lückenhaften Einfriedung sofort wieder einen Ausgang gefunden. Dieses Wollknäuel weicht mir keinen Meter mehr von der Seite. Von links nach rechts, von rechts nach links macht es ständig auf sich aufmerksam. So bleibt uns nach fünf Kilometern nur, unsere kostbaren Äpfel dem Schaf abzutreten. Ich denke mir, wenn das Schaf mit dem Fressen beschäftigt ist, wird es schon zurückbleiben. Dem ist aber nicht so. Ein „entwendetes“ Schaf hat mir gerade noch gefehlt. Doch die Rettung naht. Zwei entgegen kommende Wanderer finden das Schaf „muy dulce“ – sehr süß. Während sie Fotos mit sich und dem Schaf knipsen, ergreifen Jean-Louis und ich unsere Chance, zu türmen. Kurz nach dem Ortsrand von Ortuella erreichen wir die Bucht von Pobeña. Ein Surfspott vom Allerfeinsten! Und eine Augenweide. Ungezähmt fegt der Wind feinen ockerfarbenen Sand durch die Lüfte. Die Bucht ist fast menschenleer. Dafür zeigen uns ein paar Kitesurfer mit sensationellen Sprüngen ihr akrobatisches Können. „Formidable, exceptionnel“ entkommt es Jean-Louis. Ja, das habe ich vor geraumer Zeit in der Schule gelernt. Sprache ist das Tor in eine andere Welt Französisch war mein schlechtestes Fach. Zumindest, was Grammatik und Textanalysen anbelangte. Und die brauche ich hier wirklich nicht. Ich verstehe Jean-Louis ganz gut und dafür hätte ich damals eine glatte Eins verdient! Eine Sprache bedeutet für mich einfach darauf los sprechen. Etwas aufschnappen und im Kontext zu verstehen. Sich mit Händen und Füßen verständlich machen. Und sich dadurch näher zu kommen. Noch heute habe ich das Gefühl, dass es in der Schule nur darum ging, einem Schüler aufzuzeigen, was er alles nicht kann. Hier am Weg hängt alles von der Sympathie und dem Einfühlungsvermögen des Gesprächspartners ab. All das hat mir meine damalige Lehrerin nie vermittelt. Meinen Eltern hat sie in einer Sprechstunde einmal gesagt: Der ist absolut sprach-unbegabt. Dieses eine Zitat ist nun schon über 30 Jahre her und doch ist es noch immer gegenwärtig. Erst jetzt verstehe ich: Nein, ich bin nicht sprachunbegabt. Und nein, ich war es noch nie. Im Gegenteil: Ich habe immer den Mut gehabt, einfach drauf los zu reden, es immer wieder zu versuchen. Und ja, ich habe mich immer blamiert, mit falschen Ausdrücken und grammatikalischem Bullshit. Einfach nur Komplimente Hier muss ich keine Texte übersetzen und keine Texte analysieren. Hier bekomme ich keine Noten, sondern Komplimente! Mein schlechtes Französisch ist plötzlich „très bon, magnifique!“. Es gelingt mir immer wieder, Jean-Louis mit meinen französischen Spötteleien zum Lachen zu bringen. Ja wenn das nicht Sprache ist? In einer Umgebung des Vertrauens kommt schnell eine Vokabel nach der anderen zurück aus den grauen Gehirnzellen. Schon erstaunlich. Unbemerkt und ohne Stress können nun Gehirnregionen wieder tätig werden, denen ich mir gar nicht mehr bewusst war. Ich hör nch 30 Jhrn ndlich dmit uf, mir Gdnkn übr dn Sinn inzlnr Vokbln zu mchn. Und mit dm Mut zur Lück kommt plötzlich ds Vrständnis für ds Gnz. s ght uch, wnn mn nicht lls knnt. (Hier fehlt nicht nur das „A“ sondern zusätzlich auch noch das „E“. Und trotzdem klappt‘s!) So in Gespräche vertieft, erreichen wir La Arena. Direkt am Strand würde es sogar einen frisch gebratenen Cheeseburger geben. Hier ist tatsächlich eine rote Fastfood-Bude, die echt einladend aussieht. Die einzigen zwei Gäste sind zwei Dorfpolizisten, die es sich hier gemütlich eingerichtet haben. Ich will aber gleich runter zum Strand, um den nächsten Kilometer Barfuß im Sand zu laufen. Klar, eine einzige Glasscherbe könnte mir meinen Weg vereiteln. Aber das Risiko werde ich eingehen. (Meine „Regenwolke“ ist nicht mehr zugegen, sonst würde sie das verhindern). Im Sand laufen ist zwar ein wenig anstrengender, dafür eine wahre Wohltat für die Füße. Ich entscheide mich, direkt an der Wasserlinie zu laufen. Hier ist der Sand gepresst und fühlt sich herrlich an. Jede Welle umspült meine Füße. Und Scherben sind hier nicht. Auch kein Unrat, sondern einfach nur sauberer Strand. Zwei baskische Kitelehrer halten vor mir gerade zusammen ihre Schülerin fest, die ansonsten wohl direkt nach oben entgleiten würde. Ich muss lachen und rufe den Dreien „fuerte“ – stark zu. Die beiden roten Flaggen am Strand beeindrucken jedenfalls keinen. Und für mich haben sie ohnehin keine Gültigkeit. Vielleicht sollen sie Touristen heute vom Strand abhalten, damit ich hier als Pilger „ungestört“ meine Ideallinie am Strand gehen kann? Fast scheint es so. Zum Baden wäre es heute jedenfalls nur etwas für echt Hartgesottene. Viel zu kalt weht der Wind über den Atlantik. Gut so. Denn ich würde mich auch nicht als Badegast fühlen und so ist der leere Strandabschnitt Balsam für die Seele. Kein Pilger weit und breit Abgesehen von Jean-Louis habe ich bis heute noch keinen einzigen Pilger gesehen. Und ich habe meinen geliebten Ozean wieder! Er hat mir die letzten beiden Tage schon gefehlt. Am Ende der Bucht nähere ich mich einer Stahlbrücke für Fußgänger, die über eine kleine Mündung führt. So erreiche ich trockenen Fußes die andere Seite. Hier liegt hinter zwei Kurven das idyllische Dörfchen Pobeña. Pobeña ist ein nur wenige Häuser zählendes Kleinod. Die Pilgerherberge ist schon von außen richtig einladend. Sie liegt direkt hinter einem gepflegten Park und fügt sich mit ihren schönen Natursteinmauern tadellos ein in das Landschaftsbild. Das große Schild mit der Jakobsmuschel begrüßt mich auf Spanisch mit „Albergue de Pobeña“, sowie auf Baskisch mit „Pobenaka Aterpetxte“. Das sind zwei Paar Schuhe! In einem geräumigen und hellen Schlafsaal warten 22 Betten. Die Hälfte davon bleibt unbelegt. Ich mache mich noch auf, um allein ein wenig durch Pobeña zu streifen. Geld und Rucksack lasse ich ohne Bedenken in der Herberge herumliegen. Unser tägliches Brot gib uns heute Als erstes entdecke ich einen kleinen Kastenwagen, der hier als wandernder Tante-Emmaladen unterwegs ist. Hinter dem Verkäufer ist frisches Obst und Gemüse aufgerichtet. Ein paar Dorffrauen kaufen gerade ein und holen sich den neuesten Tratsch. Weil das Dörfchen so klein ist, komme ich noch weitere zwei Mal am Kastenwagen vorbei. Obwohl ich meinen Geldbeutel nicht dabei habe, ist in meiner Hosentasche noch ein kleines Brillensäckchen mit ein paar Cent-Münzen sowie einem Marienanhänger, den mir meine Schwiegermutter mit auf den Weg gegeben hat. Ich gehe also zurück zum Kastenwagen und entleere das Säckchen auf meinem Handteller. Jede Menge Ein- und Zweicentstücke und eine einzige zwanzig Centmünze. Reicht das für einen Apfel? Ja, es reicht sogar für zwei. Der muntere Baske, der nebenbei ein absoluter Alleinunterhalter zu sein scheint, hat mich längst schon beobachtet. Er fragt mich „Peregrino? Santiago?“ Ich antworte ihm mit einem verlegenen „si“, bezahle und mache mich auf und davon. Plötzlich durchbricht ein schriller Pfiff die Stille. Der Händler gestikuliert mir wild zu, ich solle zurückkommen! Habe ich etwa zu wenig bezahlt? Verlegen stehe ich jetzt noch einmal vor ihm. Obwohl er deutlich kleiner als ich ist, blickt er vom Kastenwagen auf mich herab. Wortlos mustert er mich jetzt von oben bis unten. Und noch einmal fragt er mich dann „Pe-re-gri-no?“. Er streckt seine Hand zu mir hin aus. Ich soll ihm die Tüte mit den beiden Äpfeln zurück geben. Ohne zu verstehen, was gerade abgeht, händige ich ihm die Tüte wieder aus. „Alemán?“ meinte er kopfschüttelnd. Seine Hände greifen in den weißen Plastiksack und legen die beiden recht kleinen Äpfel wieder zurück an die Stelle, wo sie zuvor gelegen sind. Mir stockt der Atem. Was bitteschön soll das denn jetzt? Besonnen greift er mit der linken Hand meinen Arm und zieht mich ein wenig her zu ihm. Mit der Rechten schnappt er sich aus einer anderen Holzkiste zwei dicke große Äpfel und legt sie behutsam in den Beutel. Obendrauf kommt ein dunkelroter fester Pfirsich. Dann schüttelt er mit beiden Händen eine weitere dünne Plastiktüte aus und befüllt sie mit zwei reifen Bananen, Tomaten, einem Säckchen getrockneter Feigen und einem langen frischen Baguette. Er stellt beides vor mir ab und kramt die zwanzig Cent wieder für mich heraus. Dann wünscht er mir mit einer ganzen Wortsalbe, die ich nicht verstehe, aber sehr wohl interpretieren kann, alles alles Gute. Einmal im Leben die Seiten wechseln und spüren, wie es einem Bedürftigen ergeht! Würde es so einem Bettler ergehen, wenn er – verbunden mit echter Anteilnahme etwas bekommt? Kann ich je wieder herzlos an einem Bedürftigen vorbei gehen? Schon wieder kämpfe ich gegen meine Tränen. Dieses Mal in großer Ehrfurcht. Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis BILBAO – POBEÑA Array ( ) Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg Array ( ) Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3 Array ( ) 1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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    Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:

    Camino de la Costa, Camino del Norte