Etappe 10: GÜEMES - SANTANDER, Camino de la Costa: GÜEMES - SANTANDER

GÜEMES – SANTANDER

Aus dem letzten Kapitel:

(…)

Mit Gott sprechen?

Man könne sogar mit Gott sprechen. Wem das zu religiös sei, der könne in sich selbst hinein hören und das eigene Ich um eine Antwort bitten. Man dürfe Umwege ruhig als gottgegeben sehen. (Dieser Satz ist wohl speziell für mich gedacht.) Und man soll Hilfe dankbar annehmen. Wenn man Hilfe annehme, dann tue man auch dem, der hilft, einen Gefallen.

Im Anschluss an diese leidenschaftliche Predigt, finden wir uns in dem kultigen Essensraum ein. Er erinnert mich ein wenig an das Flair einer kitschigen Berghütte. Hier in Güemes sind viele Pilger neu gestartet. Ich schätze sie auf gute 50 Gleichgesinnte und hoffe natürlich, dass sich die in den nächsten Tagen alle wieder verteilen. In Anbetracht meiner Fußschmerzen kann ich denen aber wohl morgen kaum davon laufen.

So richtig anfreunden kann ich mich mit der großen Menschenmenge nicht. Aber ich genieße es, an unserem Tisch in allen Sprachen hin- und her zu Switchen. Jean-Louis ist an diesem Abend ein wenig deprimiert, weil er der einzige Franzose ist und seine Verständigung an der Sprache scheitert.

Er beneidet all die anderen, von denen jeder mindestens eine weitere Sprache beherrscht. Und seien es nur ein paar Wörter. Jean-Louis meint, er hätte seiner Zeit in Frankreich nicht die Chance für eine Fremdsprache erkannt. La Grande Nation spricht französisch. Das musste reichen.

Jean-Louis beneidet die junge Generation, die nun sicher englisch, oft sogar deutsch und spanisch lernt. Er beneidet uns alle so sehr, dass er mitten in seinen Ausführungen feuchte Augen bekommt, aufsteht und in seine Unterkunft verschwindet. Dort finde ich ihn später mit kleinen Kopfhörern im Ohr. Er lernt spanisch! Leise murmelte er das nach, was ihm sein IPhone vorspielt.

Etappe 10: GÜEMES - SANTANDER, Camino de la Costa: GÜEMES - SANTANDER

Peligro! Excmo. Ayto de Ribamontan al Mar: Etappe 10: GÜEMES – SANTANDER

 

Güemes – Santander

Tag 10: Mit Umwegen etwa 17 km, kaum Höhenmeter (300 hm), direkt an der Küste entlang.

Eine sehr kurze Strecke mit nur 17 Kilometern lag liegt heute vor mir. Und das, obwohl ich hier schon den von Pater Ernesto empfohlenen Umweg direkt an den Klippen der Steilküste eingeplant hatte. So gesehen also ein Katzensprung. Ein bequemer Spaziergang zum Erholen.

Wäre da nicht mein linker Fuß

Der ist über Nacht nicht besser geworden, sondern ziemlich dick angeschwollen. Die ganze Ferse an der Achillessehne ist entzündet. Alles um den Knöchel herum ist wie ein Klumpen angeschwollen. Na wird schon gehen.

Endlich wieder schönes Wetter. Und eine spektakuläre Küstenlandschaft. Der kleine Trampelpfad nahe dem Abgrund ist atemberaubend schön. Keine einzige Absperrung belehrt mich, wie in Deutschland üblich, wo ich gehen muss. Und so sehe ich stets zwei oder drei Trittspuren, zwischen denen ich wählen kann. Je nach Mutigkeitsgrad drei, zwei oder einen Meter am Abgrund.

Etappe 10: GÜEMES - SANTANDER, Camino de la Costa: GÜEMES - SANTANDER

Etappe 10: GÜEMES – SANTANDER, Camino de la Costa: GÜEMES – SANTANDER

Der Bußgang beginnt

Obwohl heute eine leichte Etappe ist, beginnt so etwas wie die große Prüfung. Wie viel Schmerz kann ich ertragen? Wird es wieder weg gehen? Muss ich ein paar Tage pausieren, oder wird’s noch schlimmer?

Mit diesen Gedanken ist der Weg ein echter Bußgang. Mein Klettriemen der linken Sandale geht nun nicht mehr zu. Ich habe ihn während meiner Pause aufgemacht und jetzt reicht er nicht mehr. Viel zu dick angeschwollen ist der Fuß. Und das Zukleben mit Leukoplast funktionierte ebenfalls nicht wirklich.

So sind die nächsten zehn Kilometer schlagartig unvorstellbar weit weg für mich. Es wäre doch alles so perfekt. Schon wieder eine Kulisse wie in Cornwall. Ein weicher Trampelpfad über die Wiese. Stauden, die zwischen Himmel und Erde, direkt an der Abrisskante der Schwerkraft trotzten. Alles steht in voller Blüte. Gerade überholen mich ein paar Neuankömmlinge mit schnellen und unbeschwerten Schritten. Und ich krieche im Schneckengang vor mich hin. Schmerzverzerrt.

Nichts hilft!

Die Salbe, die schon gestern in meinen Fuß einmassiert habe, hilft überhaupt nicht. Sie scheint das Anschwellen sogar noch zu beschleunigen. Meine Schuhe im Trekking-Look sind auch keine Alternative. Sie passen mir nicht mehr. Meine Füße haben sich durch die Beanspruchung um eine ganze Nummer vergrößert. Auch der andere. Ein interessanter Aspekt, der auch im Reiseführer beschrieben wird. Also lieber zu große Schuhe nehmen!

Der Pfad auf den Steilklippen mündet jetzt bei einem roten Sendemast in eine Asphaltstraße. Auf der anderen Seite der vor mir liegenden Bucht ist schon gut Santander zu sehen. Das ist ja zu greifen nahe. Ein Stück lang nehme ich den längeren Weg über den Strand und versuche es barfuß. Aber das bringt auch nichts, es wird nur schlimmer. Keine wirklich guten Aussichten. Am hintersten Ende der Bucht komme ich dann allein an der Anlegestelle an, an der ein Schiff die Pilger ans andere Ufer nach Santander bringt. Ein angenehmer Gedanke!

In einer kleinen Bar, die völlig menschenleer ist, hole ich mir ein kleines Bier. Das allerdings steigt mir sofort in den Kopf. Es hätte doch auch schmerzlindernd in meinen Fuß „steigen“ können! Beim Dahinwarten kommt schließlich Jean-Louis an. Er entdeckt mich sofort und gönnt sich nun auch ein kühles Bier. „Seulement une exception“, also nur eine Ausnahme. Diesen Spruch kenne ich ja schon von ihm.

Bereits gegen Mittag erreichen wir nach einer erfrischenden Überfahrt Santander. Es ist die Hauptstadt der Provinz Kantabrien und hat knapp 180.000 Einwohner [11].

Die Herberge hat um diese Uhrzeit noch nicht offen. So nutze ich die Gelegenheit, um an der Hafenmole Postkarten für meine Kinder zu schreiben. Gekauft habe ich sie ja bereits in Bilbao. Im Hauptpostamt gebe ich dann auch gleich meine überflüssigen Schuhe zum Heimtransport ab. Ebenso gut hätte ich sie auf Grund des hohen Portos auch wegwerfen können. Nun sind es nur noch die Sandalen, die mir bleiben.

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Gelber Jakobswegpfeil auf der Rückseite eines Verkehrsschildes. Etappe 10: GÜEMES – SANTANDER, Camino de la Costa: GÜEMES – SANTANDER

Ich brauche dringend Schuhe!

Da gibt es nur ein einziges, winzig kleines Problem. Meine Schuhgröße ist 47, jetzt wohl 47 ½. Ich habe viel Zeit, doch egal in welchem Schuhladen ich auch vorstellig werde, 47 ½ gibt es nirgendwo.

Nach dem sechsten oder siebten Schuhgeschäft, darunter auch ziemlich große Läden wird mir allmählich meine Situation bewusst. Und sie ist deprimierend. Ich bin also jetzt am Jakobsweg mit massiven Fußproblemen und habe keine richtigen Schuhe. Was tue ich hier eigentlich? Bisher habe ich jegliche Art von Sorgen einfach ausgeblendet. Ja, sie waren nicht einmal da. Und jetzt das. So naiv kann man doch gar nicht am Jakobsweg sein wie ich.

Ich bin einfach losgereist, ohne Schlafsack, ohne Stöcke, ohne passendes Schuhwerk, ohne richtige Outdoorkleidung, ohne einen vernünftigen Rucksack. Das kann doch gar nicht gut gehen! Klar, Pater Ernesto redet sich leicht. Improvisieren, durchschlagen usw. Was soll ich davon heute nur halten?

Andererseits bin ich doch schon über 300 Kilometer unterwegs und dass trotz widriger Wetterverhältnissen. Mal sehen, was kommt.

Allein schon der Name der Herberge beschreibt mein Fußleiden optimal: „Santos Mártires“.

Die Herberge der Heiligen Märtyrer

Sie ist privat geführt und liegt in alten Stadtteil Ruamayor.

Der Herbergsvater ist ein kräftiges Urtier mit Himalaya-T-Shirt. Man würde ihm jede Expedition sofort abnehmen. Trotzdem fühle ich mich in der Herberge überhaupt nicht wohl. Der Schlafsaal ist ein riesengroßes, stickiges Bettenlager. Kaum ein Lichtstrahl dringt bis zu meinem elenden Stockbett. Keine frische Luft. Es stinkt erbärmlich nach Schweiß und ungewaschenen Pilgern. Der Tourenguide spricht von zwanzig Betten. Ich würde sie locker auf das Doppelte geschätzt. Voll gepfercht bis zum letzten Winkel. Und ausgestattet mit nur zwei Toiletten. Davon eine defekt. Das bedeutet schon am frühen Nachmittag Notdurft in der Schicht.

Der Herbergsvater sieht meinen Fuß und beschwört mich wie ein böser Geist, dass meine Reise hier zu Ende ist. Ich solle zum Baden gehen, Santander genießen. Aber definitiv ist hier Schluss. Er habe schon so viele Füße gesehen. Und bei mir sei der Fall klar. Völlig klar. Da ginge nichts mehr. Ich müsse das einfach akzeptieren. Wie ein Expeditionsleiter, der einen Bergsteiger vom Gipfel zurückhalten will, hämmert er auf mich ein. Als wenn ich ihn nicht verstehen würde, fängt er jetzt auch noch auf Englisch an „believe me, it’s over now.“

Ich solle seiner Erfahrung glauben. Dass hier sei weder mit starken Schmerzmitteln zu meistern, noch würden mir jetzt noch Schuhe helfen. Immer wieder spricht er konsequent vom Flughafen und der Heimreise. Im Herbergsbuch könne ich noch Abschiedszeilen hinterlassen, wenn ich wolle. Obwohl er sicherlich nett ist, fange ich an, ihn wirklich zu hassen.

Völlig entmutigt, lasse ich mein Gepäck zurück und werfe mich dann das erste Mal auf diesem Weg in die kalten Fluten des Meeres.

Lange Zeit halte ich meinen linken Fuß in das kalte Wasser, während um mich herum fröhlich Kinder herumlaufen und sich wohl denken, warum ich mich weder rein noch raus traue.

Also nehme ich humpelnd ein wenig Anlauf und stürze mich ins Wasser. Brrr, saukalt – aber trotzdem gut!

 

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Etwas zurückgeben vom Jakobsweg

Als sich die Sonne neigt, folge ich der Empfehlung des Herbergsvaters, ein bestimmtes Speiselokal aufzusuchen. Mit dabei sind Jean-Louis und drei weitere hungrige Pilger. Nicht wir öffneten die Türe, sondern der Kellner tut das. Er empfängt uns wie die Creme della Creme. Es sieht teuer aus, da drin. Da passt keiner von uns hinein. Ich erst recht nicht. Schließlich bin ich jetzt auch noch total voll Sand.

Die Gäste mustern uns. Allesamt gehören sie augenscheinlich zur betuchten Haute Volaute von Santander. Nie im Leben würde ich so wie ich jetzt bekleidet bin, in ein solches Restaurant gehen. Vermutlich würde ich überhaupt nicht in ein solches Restaurant gehen. Doch den Anblick von Pilgern ist man hier anscheinend gewöhnt. Der Kellner weist uns mitten unter den Edelgästen einen Tisch zu. Dann kommt der Besitzer des Lokals höchstpersönlich. Jeder von uns wird einzeln mit Handschlag begrüßt. Er fragt jeden, woher er käme. Ob er Hunger habe. Und was seine Erfahrungen bisher gewesen seien. Auch er selbst sei schon gepilgert. Und er freue sich über jeden Tag, an dem er ein wenig zurückgeben könne, von dem, was ihm einst der Weg selbst gegeben habe. Das ist gerade eine Ansprache, die mir nahe geht. Was gibt mir der Weg im Augenblick? Er hat mir alles abverlangt. Und nun scheint es zu Ende zu sein.

Auch mich fragt er natürlich und München kennt er von Bayern München. Jean-Louis funkt dazwischen und sagt ihm, dass heute mein letzter Tag ist. Spinnt der jetzt? Ich muss ihm nun meine Ferse zeigen und er nickt respektvoll.

Der Chef lädt uns ein zu einem Spezialitätenteller. Als Normalbürger unbezahlbar. Hausgemachtes Brot, verschiedene Käsesorten, Serranoschinken und Rotwein. Alles aufs Haus. Pilger seien bei ihm zu jeder Tages und Nachtzeit willkommen. Und jeder Pilger solle morgen gestärkt weiter gehen können. Ausgerechnet mich sieht er dabei jetzt an. Er weiß doch, dass ich morgen wahrscheinlich nicht mehr weiter gehen kann. (Habe ich da gerade „wahrscheinlich“ gedacht? – Ist da in meinem Gehirn doch noch ein Funken Hoffnung?). Aber jetzt werde ich erst mal essen.

So wie Pater Ernesto es gesagt hat, nehmen wir seine Hilfe an, wenngleich auch hier bei dem ein oder anderen vor Demut die Tränen fließen. Sollte dies schon mein letztes Essen am Jakobsweg gewesen sein?

Angst vor dem Ende

Ich mache noch einen kleinen Umweg zu einer Apotheke. Eine Ärztin verabreichte mir eine stark medizinisch riechende Salbe. So eine Mischung aus Kampfer, Meerrettich und allem, was stinkt. Die Ärztin meint, deutsche Salben kämen da nicht heran. Sie seien quasi wirkungslos. Auch der Herbergsvater meint es dann noch gut mit mir.

Er kramt aus einer überfüllten Schublade sein persönliches Zauberelixir aus dem Himalaya heraus. Er betont aber noch einmal, dass es hier mit Hundertprozentiger Sicherheit aus und vorbei sei. Trotzdem massiert er mir seinen Zauberbalsam ein.

Eine tolle Situation zum Einzuschlafen ist das. An Schlaf ist in dieser grässlichen Nacht ohnehin nicht zu denken. Es stink nach Schweiß, alten Socken und erbärmlich nach verrichteter Notdurft. Jetzt stinkt es auch noch nach meinen beiden Salben. Muffig, stickig und alles so eng, dass ich mit meiner Platzangst ringen musste.

Ich versuche, an etwas Angenehmes zu denken und meine Gedanken ein wenig zu zerstreuen. Aber das unsägliche Schnarchkonzert macht auch akustisch mein Bett am Rande der Toilette zu einem Alptraum.

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Emblem Jakobsweg an der Küste, rund (c) Christian Seebauer


    Christian Seebauer am Jakobsweg

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    Jakobsweg an der Küste
    Christian Seebauer: BURNOUT | Jakobsweg an der Küste 19,90 € Bewertung f�r das Buch




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    Textauszug BURNOUT: Eine Wanderung auf schamlem Grat. Jakobsweg an der Kste GÜEMES – SANTANDER Aus dem letzten Kapitel: (...) Mit Gott sprechen? Man könne sogar mit Gott sprechen. Wem das zu religiös sei, der könne in sich selbst hinein hören und das eigene Ich um eine Antwort bitten. Man dürfe Umwege ruhig als gottgegeben sehen. (Dieser Satz ist wohl speziell für mich gedacht.) Und man soll Hilfe dankbar annehmen. Wenn man Hilfe annehme, dann tue man auch dem, der hilft, einen Gefallen. Im Anschluss an diese leidenschaftliche Predigt, finden wir uns in dem kultigen Essensraum ein. Er erinnert mich ein wenig an das Flair einer kitschigen Berghütte. Hier in Güemes sind viele Pilger neu gestartet. Ich schätze sie auf gute 50 Gleichgesinnte und hoffe natürlich, dass sich die in den nächsten Tagen alle wieder verteilen. In Anbetracht meiner Fußschmerzen kann ich denen aber wohl morgen kaum davon laufen. So richtig anfreunden kann ich mich mit der großen Menschenmenge nicht. Aber ich genieße es, an unserem Tisch in allen Sprachen hin- und her zu Switchen. Jean-Louis ist an diesem Abend ein wenig deprimiert, weil er der einzige Franzose ist und seine Verständigung an der Sprache scheitert. Er beneidet all die anderen, von denen jeder mindestens eine weitere Sprache beherrscht. Und seien es nur ein paar Wörter. Jean-Louis meint, er hätte seiner Zeit in Frankreich nicht die Chance für eine Fremdsprache erkannt. La Grande Nation spricht französisch. Das musste reichen. Jean-Louis beneidet die junge Generation, die nun sicher englisch, oft sogar deutsch und spanisch lernt. Er beneidet uns alle so sehr, dass er mitten in seinen Ausführungen feuchte Augen bekommt, aufsteht und in seine Unterkunft verschwindet. Dort finde ich ihn später mit kleinen Kopfhörern im Ohr. Er lernt spanisch! Leise murmelte er das nach, was ihm sein IPhone vorspielt. Güemes - Santander Tag 10: Mit Umwegen etwa 17 km, kaum Höhenmeter (300 hm), direkt an der Küste entlang. Eine sehr kurze Strecke mit nur 17 Kilometern lag liegt heute vor mir. Und das, obwohl ich hier schon den von Pater Ernesto empfohlenen Umweg direkt an den Klippen der Steilküste eingeplant hatte. So gesehen also ein Katzensprung. Ein bequemer Spaziergang zum Erholen. Wäre da nicht mein linker Fuß Der ist über Nacht nicht besser geworden, sondern ziemlich dick angeschwollen. Die ganze Ferse an der Achillessehne ist entzündet. Alles um den Knöchel herum ist wie ein Klumpen angeschwollen. Na wird schon gehen. Endlich wieder schönes Wetter. Und eine spektakuläre Küstenlandschaft. Der kleine Trampelpfad nahe dem Abgrund ist atemberaubend schön. Keine einzige Absperrung belehrt mich, wie in Deutschland üblich, wo ich gehen muss. Und so sehe ich stets zwei oder drei Trittspuren, zwischen denen ich wählen kann. Je nach Mutigkeitsgrad drei, zwei oder einen Meter am Abgrund. Der Bußgang beginnt Obwohl heute eine leichte Etappe ist, beginnt so etwas wie die große Prüfung. Wie viel Schmerz kann ich ertragen? Wird es wieder weg gehen? Muss ich ein paar Tage pausieren, oder wird’s noch schlimmer? Mit diesen Gedanken ist der Weg ein echter Bußgang. Mein Klettriemen der linken Sandale geht nun nicht mehr zu. Ich habe ihn während meiner Pause aufgemacht und jetzt reicht er nicht mehr. Viel zu dick angeschwollen ist der Fuß. Und das Zukleben mit Leukoplast funktionierte ebenfalls nicht wirklich. So sind die nächsten zehn Kilometer schlagartig unvorstellbar weit weg für mich. Es wäre doch alles so perfekt. Schon wieder eine Kulisse wie in Cornwall. Ein weicher Trampelpfad über die Wiese. Stauden, die zwischen Himmel und Erde, direkt an der Abrisskante der Schwerkraft trotzten. Alles steht in voller Blüte. Gerade überholen mich ein paar Neuankömmlinge mit schnellen und unbeschwerten Schritten. Und ich krieche im Schneckengang vor mich hin. Schmerzverzerrt. Nichts hilft! Die Salbe, die schon gestern in meinen Fuß einmassiert habe, hilft überhaupt nicht. Sie scheint das Anschwellen sogar noch zu beschleunigen. Meine Schuhe im Trekking-Look sind auch keine Alternative. Sie passen mir nicht mehr. Meine Füße haben sich durch die Beanspruchung um eine ganze Nummer vergrößert. Auch der andere. Ein interessanter Aspekt, der auch im Reiseführer beschrieben wird. Also lieber zu große Schuhe nehmen! Der Pfad auf den Steilklippen mündet jetzt bei einem roten Sendemast in eine Asphaltstraße. Auf der anderen Seite der vor mir liegenden Bucht ist schon gut Santander zu sehen. Das ist ja zu greifen nahe. Ein Stück lang nehme ich den längeren Weg über den Strand und versuche es barfuß. Aber das bringt auch nichts, es wird nur schlimmer. Keine wirklich guten Aussichten. Am hintersten Ende der Bucht komme ich dann allein an der Anlegestelle an, an der ein Schiff die Pilger ans andere Ufer nach Santander bringt. Ein angenehmer Gedanke! In einer kleinen Bar, die völlig menschenleer ist, hole ich mir ein kleines Bier. Das allerdings steigt mir sofort in den Kopf. Es hätte doch auch schmerzlindernd in meinen Fuß „steigen“ können! Beim Dahinwarten kommt schließlich Jean-Louis an. Er entdeckt mich sofort und gönnt sich nun auch ein kühles Bier. „Seulement une exception“, also nur eine Ausnahme. Diesen Spruch kenne ich ja schon von ihm. Bereits gegen Mittag erreichen wir nach einer erfrischenden Überfahrt Santander. Es ist die Hauptstadt der Provinz Kantabrien und hat knapp 180.000 Einwohner [11]. Die Herberge hat um diese Uhrzeit noch nicht offen. So nutze ich die Gelegenheit, um an der Hafenmole Postkarten für meine Kinder zu schreiben. Gekauft habe ich sie ja bereits in Bilbao. Im Hauptpostamt gebe ich dann auch gleich meine überflüssigen Schuhe zum Heimtransport ab. Ebenso gut hätte ich sie auf Grund des hohen Portos auch wegwerfen können. Nun sind es nur noch die Sandalen, die mir bleiben. Ich brauche dringend Schuhe! Da gibt es nur ein einziges, winzig kleines Problem. Meine Schuhgröße ist 47, jetzt wohl 47 ½. Ich habe viel Zeit, doch egal in welchem Schuhladen ich auch vorstellig werde, 47 ½ gibt es nirgendwo. Nach dem sechsten oder siebten Schuhgeschäft, darunter auch ziemlich große Läden wird mir allmählich meine Situation bewusst. Und sie ist deprimierend. Ich bin also jetzt am Jakobsweg mit massiven Fußproblemen und habe keine richtigen Schuhe. Was tue ich hier eigentlich? Bisher habe ich jegliche Art von Sorgen einfach ausgeblendet. Ja, sie waren nicht einmal da. Und jetzt das. So naiv kann man doch gar nicht am Jakobsweg sein wie ich. Ich bin einfach losgereist, ohne Schlafsack, ohne Stöcke, ohne passendes Schuhwerk, ohne richtige Outdoorkleidung, ohne einen vernünftigen Rucksack. Das kann doch gar nicht gut gehen! Klar, Pater Ernesto redet sich leicht. Improvisieren, durchschlagen usw. Was soll ich davon heute nur halten? Andererseits bin ich doch schon über 300 Kilometer unterwegs und dass trotz widriger Wetterverhältnissen. Mal sehen, was kommt. Allein schon der Name der Herberge beschreibt mein Fußleiden optimal: „Santos Mártires“. Die Herberge der Heiligen Märtyrer Sie ist privat geführt und liegt in alten Stadtteil Ruamayor. Der Herbergsvater ist ein kräftiges Urtier mit Himalaya-T-Shirt. Man würde ihm jede Expedition sofort abnehmen. Trotzdem fühle ich mich in der Herberge überhaupt nicht wohl. Der Schlafsaal ist ein riesengroßes, stickiges Bettenlager. Kaum ein Lichtstrahl dringt bis zu meinem elenden Stockbett. Keine frische Luft. Es stinkt erbärmlich nach Schweiß und ungewaschenen Pilgern. Der Tourenguide spricht von zwanzig Betten. Ich würde sie locker auf das Doppelte geschätzt. Voll gepfercht bis zum letzten Winkel. Und ausgestattet mit nur zwei Toiletten. Davon eine defekt. Das bedeutet schon am frühen Nachmittag Notdurft in der Schicht. Der Herbergsvater sieht meinen Fuß und beschwört mich wie ein böser Geist, dass meine Reise hier zu Ende ist. Ich solle zum Baden gehen, Santander genießen. Aber definitiv ist hier Schluss. Er habe schon so viele Füße gesehen. Und bei mir sei der Fall klar. Völlig klar. Da ginge nichts mehr. Ich müsse das einfach akzeptieren. Wie ein Expeditionsleiter, der einen Bergsteiger vom Gipfel zurückhalten will, hämmert er auf mich ein. Als wenn ich ihn nicht verstehen würde, fängt er jetzt auch noch auf Englisch an „believe me, it’s over now.“ Ich solle seiner Erfahrung glauben. Dass hier sei weder mit starken Schmerzmitteln zu meistern, noch würden mir jetzt noch Schuhe helfen. Immer wieder spricht er konsequent vom Flughafen und der Heimreise. Im Herbergsbuch könne ich noch Abschiedszeilen hinterlassen, wenn ich wolle. Obwohl er sicherlich nett ist, fange ich an, ihn wirklich zu hassen. Völlig entmutigt, lasse ich mein Gepäck zurück und werfe mich dann das erste Mal auf diesem Weg in die kalten Fluten des Meeres. Lange Zeit halte ich meinen linken Fuß in das kalte Wasser, während um mich herum fröhlich Kinder herumlaufen und sich wohl denken, warum ich mich weder rein noch raus traue. Also nehme ich humpelnd ein wenig Anlauf und stürze mich ins Wasser. Brrr, saukalt – aber trotzdem gut! Etwas zurückgeben vom Jakobsweg Als sich die Sonne neigt, folge ich der Empfehlung des Herbergsvaters, ein bestimmtes Speiselokal aufzusuchen. Mit dabei sind Jean-Louis und drei weitere hungrige Pilger. Nicht wir öffneten die Türe, sondern der Kellner tut das. Er empfängt uns wie die Creme della Creme. Es sieht teuer aus, da drin. Da passt keiner von uns hinein. Ich erst recht nicht. Schließlich bin ich jetzt auch noch total voll Sand. Die Gäste mustern uns. Allesamt gehören sie augenscheinlich zur betuchten Haute Volaute von Santander. Nie im Leben würde ich so wie ich jetzt bekleidet bin, in ein solches Restaurant gehen. Vermutlich würde ich überhaupt nicht in ein solches Restaurant gehen. Doch den Anblick von Pilgern ist man hier anscheinend gewöhnt. Der Kellner weist uns mitten unter den Edelgästen einen Tisch zu. Dann kommt der Besitzer des Lokals höchstpersönlich. Jeder von uns wird einzeln mit Handschlag begrüßt. Er fragt jeden, woher er käme. Ob er Hunger habe. Und was seine Erfahrungen bisher gewesen seien. Auch er selbst sei schon gepilgert. Und er freue sich über jeden Tag, an dem er ein wenig zurückgeben könne, von dem, was ihm einst der Weg selbst gegeben habe. Das ist gerade eine Ansprache, die mir nahe geht. Was gibt mir der Weg im Augenblick? Er hat mir alles abverlangt. Und nun scheint es zu Ende zu sein. Auch mich fragt er natürlich und München kennt er von Bayern München. Jean-Louis funkt dazwischen und sagt ihm, dass heute mein letzter Tag ist. Spinnt der jetzt? Ich muss ihm nun meine Ferse zeigen und er nickt respektvoll. Der Chef lädt uns ein zu einem Spezialitätenteller. Als Normalbürger unbezahlbar. Hausgemachtes Brot, verschiedene Käsesorten, Serranoschinken und Rotwein. Alles aufs Haus. Pilger seien bei ihm zu jeder Tages und Nachtzeit willkommen. Und jeder Pilger solle morgen gestärkt weiter gehen können. Ausgerechnet mich sieht er dabei jetzt an. Er weiß doch, dass ich morgen wahrscheinlich nicht mehr weiter gehen kann. (Habe ich da gerade „wahrscheinlich“ gedacht? – Ist da in meinem Gehirn doch noch ein Funken Hoffnung?). Aber jetzt werde ich erst mal essen. So wie Pater Ernesto es gesagt hat, nehmen wir seine Hilfe an, wenngleich auch hier bei dem ein oder anderen vor Demut die Tränen fließen. Sollte dies schon mein letztes Essen am Jakobsweg gewesen sein? Angst vor dem Ende Ich mache noch einen kleinen Umweg zu einer Apotheke. Eine Ärztin verabreichte mir eine stark medizinisch riechende Salbe. So eine Mischung aus Kampfer, Meerrettich und allem, was stinkt. Die Ärztin meint, deutsche Salben kämen da nicht heran. Sie seien quasi wirkungslos. Auch der Herbergsvater meint es dann noch gut mit mir. Er kramt aus einer überfüllten Schublade sein persönliches Zauberelixir aus dem Himalaya heraus. Er betont aber noch einmal, dass es hier mit Hundertprozentiger Sicherheit aus und vorbei sei. Trotzdem massiert er mir seinen Zauberbalsam ein. Eine tolle Situation zum Einzuschlafen ist das. An Schlaf ist in dieser grässlichen Nacht ohnehin nicht zu denken. Es stink nach Schweiß, alten Socken und erbärmlich nach verrichteter Notdurft. Jetzt stinkt es auch noch nach meinen beiden Salben. Muffig, stickig und alles so eng, dass ich mit meiner Platzangst ringen musste. Ich versuche, an etwas Angenehmes zu denken und meine Gedanken ein wenig zu zerstreuen. Aber das unsägliche Schnarchkonzert macht auch akustisch mein Bett am Rande der Toilette zu einem Alptraum. Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kste H1 Inhaltsverzeichnis GÜEMES – SANTANDER Array ( ) Inhalt H2 zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Küste, Küstenweg Array ( ) Jakobsweg an der Küste, Burnout, Inhaltsverzeichnis H3 Array ( ) 1313Inhalt aus dem Buch BURNOUT: Eine Reise auf schmalem Grat , Jakobsweg an der Kueste und additive Fotos hier auf der Jakobsweg-Webseite (Fotos im Buch nicht enthalten)
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    Fotos zum Camino de la Costa/ Jakobsweg an der Kueste Beitrag Keywords zu diesem Jakobsweg-Beitrag:

    Camino de la Costa, Camino del Norte